Athen. Der letzte Akt im Schuldendrama hat begonnen. Am kommenden Sonntag sollen die Wähler entscheiden. Womöglich ist Griechenland bis dahin schon pleite.
Zwölf Stunden hat Julie Papas Im Flieger gesessen, um aus Boston in der USA, wo sie lebt, nach Hellas zu reisen, ins Land ihrer Großeltern. Zehn Tage will die 28-Jährige bleiben, aber der Urlaub fängt nicht gut an. Auf der Ankunftsebene des Athener Flughafens steht die junge Amerikanerin an diesem Sonntagmittag vor einem Geldautomaten. Aber die Maschine streikt. „Transaktion aus technischen Gründen nicht möglich“, lautet die Botschaft auf dem Bildschirm. „But I need cash“, aber ich brauche doch Bargeld, sagt die Touristin verzweifelt. So wie der Besucherin aus Boston ging es am Sonntag zahllosen Reisenden in Griechenland: Sie standen vor leeren Geldautomaten.
Griechenland ist im Ausnahmezustand, seit Premierminister Alexis Tsipras nach einer Marathonsitzung des Kabinetts am frühen Samstagmorgen vor die Kameras trat und eine Volksabstimmung ankündigte. Am Sonntag sollen die Griechinnen und Griechen an der Wahlurne über Annahme oder Ablehnung des jüngsten Kompromissangebots der Geldgeber entscheiden. Es sieht die Gewährung von Hilfskrediten in Höhe von 15,5 Milliarden Euro vor, in mehreren Raten zwischen Juli und November. Im Gegenzug soll die griechische Regierung Strukturreformen und Sparmaßnahmen umsetzen.
Tsipras wirbt für ein "stolzes Nein"
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte noch am Freitag an Tsipras appelliert, dieses „großzügige Angebot“ der Geldgeber anzunehmen. Aber der griechische Premier schlug es sofort aus. Die versprochenen Gelder seien unzureichend, die geforderten Reformen unzumutbar. Das Angebot der Geldgeber sei ein „erpresserisches Ultimatum“, giftete Tsipras. Der Vorschlag der Gläubiger lade „untragbare Bürden auf die Schultern des griechischen Volkes“. Tsipras wirbt daher für ein „stolzes Nein“ und erklärt, der kommende Sonntag werde „der Tag der Wahrheit für die Gläubiger“. Vor allem aber dürfte er ein Tag der Wahrheit für Tsipras und die Griechen werden.
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Es ist schwer vorherzusagen, wie die Volksabstimmung ausgehen wird. In einer Umfrage sprachen sich zwar 57 Prozent für einen Kompromiss in den Gläubigerverhandlungen aus, nur 29 Prozent wollten es zu einem Bruch kommen lassen. Aber in einer anderen Untersuchung äußerten 59 Prozent Zustimmung zur harten Linie der Regierung.
"Die Gläubiger wollen uns erniedrigen"
Das politische Klima in Griechenland ist seit dem Wahlsieg des Bündnisses der radikalen Linken (Syriza) Ende Januar stark polarisiert. Und in der Woche vor der Volksabstimmung werden sich die Gegensätze wohl noch weiter verschärfen. Am Montag bleiben sämtliche Banken im Land geschlossen - ein bislang einmaliger Schritt in dem Euroland. Medienberichten zufolge sollen die Geldinstitute auch nicht vor dem 6. Juli wieder öffnen. An Geldautomaten sollen demnach maximal 60 Euro pro Tag abgehoben werden können. Zuvor war von 100 Euro die Rede.
„Die Gläubiger wollen uns erniedrigen, sie wollen die demokratisch gewählte Regierung Tsipras stürzen“, sagte am Sonntagmorgen Stefanos Stefanidis, ein Passant, der am Athener Omoniaplatz die Titelseiten der an den Kiosken ausgehängten Zeitungen studierte. „Tsipras will alles zerstören, was wir seit dem Beitritt zur EU und zur Eurozone erreicht haben“, meinte dagegen die 55-jährige Verkäuferin Maria Petropoulou, die auf dem Weg zur Arbeit war.
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Während Tsipras mit Vollgas auf den Grexit zusteuert, entdecken selbst drachmenverliebte und europafeindliche Regierungspolitiker eine plötzliche Zuneigung zum Euro. So wurden zahlreiche Syriza-Abgeordnete und Minister der Regierung beobachtet, als sie vor dem Bankautomaten der National Bank of Greece im Parlament anstanden, um Geld zu ziehen. So groß war der Andrang der Abgeordneten, dass die Banknoten schließlich ausgingen.
Mehr Glück hatte, wer sich gleich nach der schicksalhaften Ankündigung der Volksabstimmung durch Premier Tsipras noch in der Nacht auf die Socken machte. „Ich bin in Pantoffeln und Morgenmantel zum Geldautomaten gelaufen und habe 700 Euro abgehoben, mein Tageslimit“, erzählt Aristidis Panagopoulos. Am Sonntagmorgen steht der 67-jährige Rentner in einer Schlange vor einem Geldautomaten der Alpha Bank im Athener Stadtteil Pangrati, um weitere 700 Euro abzuheben. „Ich möchte nicht am Montag mit Drachmen auf dem Konto aufwachen“, sagt der Pensionär.
Rückschlag für den Tourismus
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Die Notlage der Banken hat sich dramatisch zugespitzt. Am Samstag und Sonntag waren zeitweilig in Athen und anderen griechischen Städten mehr als die Hälfte der Geldautomaten leer. Wie viel Geld am Samstag und Sonntag aus dem griechischen Bankensystem abgeflossen ist, ist noch nicht bekannt, aber es dürfte nach ersten Schätzungen aus Bankenkreisen mindestens eine Milliarde Euro gewesen sein. Kapitalkontrollen werden immer unausweichlicher. Die Griechen könnten dann nur noch begrenzte Beträge von ihren Konten abheben, Auslandsüberweisungen würden strikt limitiert oder ganz untersagt.
Solche Kontrollen würden die rezessionsgeplagte griechische Wirtschaft zusätzlich treffen. Ein schwerer Rückschlag wären sie für den Tourismus. Der Fremdenverkehr ist der einzige Wachstumsmotor. Doch die Turbulenzen seit dem Wahlsieg von Alexis Tsipras vergraulen jetzt viele Urlauber. Marios Tselepis ist Manager eines kleinen Hotels im Athener Stadtzentrum. Sein Haus wird vor allem von ausländischen Individualreisenden besucht. „Vergangene Woche hat fast ein Drittel unserer gebuchten Gäste storniert“, sagt Tselepis. Am Wochenende hat er in den ausländischen Fernsehnachrichten, die man in seinem Hotel über Satellit empfangen kann, die Bilder von den langen Schlangen vor den griechischen Geldautomaten und Tankstellen gesehen. „Das wird uns für diese Saison den Rest geben“, sagte der Hotelier resigniert.