Brüssel. . Nach fünf Jahren am Tropf der Geldgeber ist nun Schluss. Das Hilfsprogramm für Griechenland endet. Ist der “Grexit“ nun unvermeidbar?
Gianis Varoufakis geht wieder einmal in die Offensive. Der griechische Finanzminister greift die Kollegen der 18 Euro-Partner an, sie hätten eine Verlängerung des griechischen Hilfsprogramms verweigert und damit die Glaubwürdigkeit der Eurogruppe beschädigt. "Das ist ein trauriger Tag für Europa, aber wir werden es überwinden" - mit diesem Worten verabschiedet sich der Ressortchef mit schwarzem Hemd und schwarzer Jacke eiligen Schrittes aus dem klotzigen EU-Ministerratsgebäude in Brüssel.
Dieser Samstag ist in der Tat denkwürdig, manche sagen sogar historisch. Denn Varoufakis trägt die Erklärung des Finanzministerclubs zu Griechenland nicht mit. Noch nimmt der Radikallinke am zweiten Teil der Sitzung teil, bei der es um das weitere Vorgehen geht. Nach der überraschenden Athener Ankündigung aus der Nacht, am 5. Juli ein Referendum über das Angebot der Geldgeber im Schuldenstreit abzuhalten, ist die Stimmung in der Ministerrunde vergiftet.
Vieles hängt nun von der Europäischen Zentralbank ab
Die Folge: Das Rettungsprogramm für Griechenland läuft Dienstagnacht aus. Das sagte Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem am Samstag in Brüssel nach einer Sitzung der Euro-Finanzminister und bestätigte damit frühere Angaben von Diplomaten. Die Geldgeber hätten maximal flexibel reagiert und seien bereit gewesen, auf die wirtschaftliche Lage zu reagieren. Die griechische Regierung habe den Prozess abgebrochen. Es sei unfair, die Vorschläge den Griechen zur Abstimmung vorzulegen und mit einem Nein und negativen Votum zu werben. Das Hilfsprogramm werde am Dienstagabend auslaufen. Es sei die letzte Möglichkeit einer Einigung gewesen. "Wir sind entschlossen, die Stärke der Eurozone zu wahren."
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Grund war die überraschende Ankündigung von Ministerpräsident Alexis Tsipras, das griechische Volk per Referendum über die Reform- und Sparvorschläge der Geldgeber abstimmen zu lassen. Ohne eine Einigung und Zustimmung durch Parlamente in Griechenland und anderen Euro-Ländern bis zum 30. Juni verfallen die bisher blockierten Hilfskredite. Das sind 7,2 Milliarden Euro der Europäer sowie des Internationalen Währungsfonds (IWF). Zudem könnten weitere knapp 11 Milliarden Euro nicht genutzt werden, die zur Stabilisierung der griechischen Banken reserviert sind. Am 30. Juni muss Athen trotz leerer Kassen aber einen Kredit von 1,54 Milliarden Euro an den IWF zurückzahlen.
'Griechenland muss jetzt Stabilität seines Bankensystems sichern
Das Ende des Rettungsprogramms für Griechenland zwingt nach Einschätzung der Euro-Finanzminister die Athener Regierung zu finanziellen Notmaßnahmen. Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem sagte am Samstag nach Krisenberatungen in Brüssel, dafür solle es technische Hilfe von den Geldgeber-Institutionen geben, um die Stabilität des griechischen Finanzsystems zu sichern. Er ging bei diesen von ihm als "Maßnahmen" bezeichneten Schritten nicht ins Detail. Schon länger wird über Kapitalverkehrskontrollen in Griechenland spekuliert, die aber von der Regierung beschlossen werden müssten.
Vieles hängt jetzt zudem von der Europäischen Zentralbank (EZB) ab. Diese muss rasch entscheiden, ob sie weitere Nothilfen für griechische Banken gewährt. Dreht sie den Geldhahn endgültig zu, spitzt sich die Lage weiter zu. Die EZB berät Kreisen zufolge am Sonntag über die Notkredite für das griechische Bankensystem. Das berichtete die Nachrichtenagentur Bloomberg am Samstagabend unter Bezug auf einen mit der Sache vertrauten griechischen Offiziellen.
EU-Kommissions-Vize zerstreut Sorgen über Grexit
Der Vize-Chef der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, hat indes Sorgen über einen möglichen Austritt Griechenlands aus dem Euro-Raum zerstreut. "Griechenland bleibt Teil der Euro-Zone", schrieb Dombrovskis am Samstag nach Krisenberatungen mit den Euro-Finanzministern im Kurzmitteilungsdienst Twitter. Die Finanzminister seien entschlossen, die finanzielle Stabilität des gemeinsamen Euro-Währungsraums zu bewahren und die Euro-Zone weiter zu stärken.
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Nach der Eskalation in der Griechenland-Krise wollen die Euro-Länder laut Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble alles unternehmen, um die Europäische Währungsunion zu stabilisieren und Marktturbulenzen zu verhindern. "Wir sind uns völlig klar, dass wir alles tun werden, um jede denkbare Ansteckungsgefahr zu bekämpfen", sagte Schäuble am Samstag nach Beratungen der Euro-Finanzminister. Daran hatte der griechische Ressortchef Gianis Varoufakis nicht teilgenommen. Es soll auch alles getan werden, um jede Beunruhigung der Finanzmärkte zu verhindern.
Schäuble: Griechenland soll in der Euro-Zone bleiben
Schäuble bekräftigte zugleich, dass Griechenland Mitglied der Euro-Zone und Teil der EU bleibe. Griechenland steuere in den kommenden Tagen auf akute Schwierigkeiten zu. Schon am Samstag seien bei griechischen Banken Einlagen in außergewöhnlich hohem Niveau abgezogen worden. Es werde auch schwierig für Athen, Verpflichtungen zu erfüllen. Es sei zu befürchten, dass die Entscheidung der Athener Regierung zu unruhigen Tagen in Griechenland führe.
Mit Blick auf die geplante griechische Volksabstimmung über die Vorschläge der Geldgeber sagte Schäuble, natürlich habe jedes Land das Recht, Referenden durchzuführen. Aber damit würden die Probleme nicht gelöst. Die Verhandlungen seien von Athen unterbrochen und Vorschläge der Geldgeber von der griechischen Regierung abgelehnt worden. Dies sei keine Grundlage, das Hilfsprogramm zu verlängern. Die Bundesregierung habe in der Frage eine geschlossene Haltung. Die Position sei eng abgestimmt mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU).
Es ist völlig unklar, worüber Tsipras abstimmen lassen will
Tsipras hatte seinen Widerstand gegen die Vorschläge der Gläubigerinstitutionen aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) bekräftigt und für Sonntag kommender Woche ein Referendum angekündigt. Völlig offen ist aber die Fragestellung für eine solche Volksabstimmung. Zugleich hatte sich Athen dafür ausgesprochen, das am 30. Juni auslaufende Hilfspaket noch einmal um einige Tage zu verlängern. Finanzminister Varoufakis bekräftigte am Samstagabend in Brüssel, dass das Referendum stattfinden werde: "Wenn das griechische Volk von uns verlangt, auf der gepunkteten Linie zu unterschreiben, werden wir das tun."
Die Griechen hatten um eine Verlängerung des Hilfsprogramms um einen Monat gebeten, dies lehnten die Finanzminister ab. Unmittelbar nach der Referendums-Ankündigung bildeten sich vor den Geldautomaten in Griechenland lange Schlangen. Einige Geldautomaten waren wegen des Ansturms leer, berichteten Augenzeugen.
Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem zeigte sich enttäuscht. "Ich bin negativ überrascht." Die griechische Entscheidung für ein Referendum habe "die Tür für weitere Gespräche" mit Athen geschlossen. Dies sei eine sehr traurige Situation für Griechenland. Athen habe den letzten Vorschlag der Geldgeber-Institutionen abgelehnt. Ob es eine Verlängerung des Hilfsprogramms geben kann, sagte er nicht.
"Griechenland hat den Verhandlungstisch verlassen"
Österreichs Finanzminister Hans Jörg Schelling sprach von einer äußerst dramatischen und schwierigen Situation: "Ich glaube, es ist das passiert, was eigentlich nie passieren hätte sollen." Durch das Verhalten der griechischen Regierung sei die Zeit verloren gegangen, um Verhandlungen zu führen. "Griechenland hat den Verhandlungstisch jetzt verlassen." Eine Verlängerung des laufenden Hilfsprogramms über den 30. Juni hinaus schloss Schelling aus. Nun müsse auch über Alternativen gesprochen werden.
Nach Angaben des finnischen Finanzministers Alexander Stubb ist die Mehrheit der Euro-Gruppe gegen eine Verlängerung. "Plan B wird nun zu Plan A", sagte Stubb. Mit der Bezeichnung Plan B wird üblicherweise eine Pleite oder ein Euro-Austritt Griechenlands umschrieben. Er sprach von einem schlechten Tag für die Griechen. Die Tür für weitere Gespräche sei nun geschlossen. Der belgische Ressortchef Johan Van Overtveldt nannte die Referendumspläne "bizarr". Es sei ein wenig widersprüchlich, wenn die Athener Regierung ankündige, das Volk zu befragen und zugleich betone, dass sie selbst das Programm ablehne.
IWF-Chefin Lagarde will weiter an einer Lösung arbeiten
Etwas optimistisch zeigte sich hingegen EU-Währungskommissar Pierre Moscovici. Er hält eine Einigung der Eurogruppe noch für möglich. "Eine Abmachung ist nicht außer Reichweite", sagte der Franzose. IWF-Chefin Christine Lagarde erklärte nur, die Arbeiten würden fortgesetzt.
Ohne eine Einigung verfallen Ende Juni die blockierten Kredithilfen der Geldgeber in Höhe von 7,2 Milliarden Euro. Dies betrifft auch knapp elf Milliarden Euro, die eigentlich für die Stabilisierung griechischen Banken reserviert sind. Am 30. Juni muss Athen zudem auch eine Kreditrate von 1,54 Milliarden Euro an den IWF zurückzahlen. Ob dies angesichts leerer Kassen gelingt, ist offen. Eine Zahlungsunfähigkeit schon unmittelbar am 1. Juli bei endgültig gescheiterten Verhandlungen gilt aber als ausgeschlossen.
Schulz sieht noch Chancen für Kompromiss mit Griechenland
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), hofft auch nach dem Scheitern der Griechenland-Verhandlungen auf eine Rettung des Euro-Krisenlandes. Er gehe davon aus, dass die Regierungschefs der Eurozone in der kommenden Woche ein starkes Signal an Griechenland geben werden, sagte Schulz am Samstagabend im ARD-"Brennpunkt".
Man werde die Kompromissbereitschaft gegenüber der griechischen Seite bei Renten und Steuern deutlich machen. "Wir haben die Chance, dass das griechische Volk am kommenden Sonntag zu diesen Vorschlägen "Ja" sagt. Die Tür ist jetzt offen und sie ist auch dann offen", betonte Schultz. Er sei keinesfalls überzeugt davon, dass die Mehrheit der Griechen so denkt wie Regierungschef Alexis Tsipras.
Kein automatischer Ausstieg aus dem Euro - was kommt nun?
Der Gipfel mag eine letzte Chance sein, den Unfall zu vermeiden. Aber bislang ist nicht einmal klar, wer überhaupt in welcher Form feststellt, dass der Versuch, sich zu einigen, definitiv gescheitert ist. Die Euro-Gruppe? Ein Gipfel? Die Finanzmärkte? Und was hieße das?
Anders als viele vermuten, bedeutet Nicht-Einigung keineswegs automatisch „Grexit“, Abgang Griechenlands aus der Euro-Zone. Es bedeutet zunächst nur, dass Athen nicht in der Lage sein wird, die zum Monatsende fälligen 1,5 Milliarden Euro an den IWF zu überweisen. Dieser muss dann Zahlungsunfähigkeit seines Schuldners Hellas feststellen, was wiederum in einer Kettenreaktion finanztechnischer Wirkungen die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der Währungsunion unterminiert.
Aber Rausschmiss ist im EU-Vertrag nicht vorgesehen. Grexit - wie soll das gehen? Kann man nach der Pleite auf dem Weg dorthin doch stoppen? Oder nur die Schäden minimieren? Es sind vor allem politische Fragen. Sie werden nun rasch geklärt werden müssen.
Ansturm auf griechische Geldhäuser befürchtet
Was passiert nun? Viele Fragezeichen bleiben. Topvertreter der Europäischen Zentralbank (EZB), die dafür sorgt, dass griechische Banken mit sogenannten ELA-Notkrediten über Wasser gehalten werden, wollen dem Vernehmen nach an diesem Sonntag beraten.
Am Montag könnte es laut Diplomaten einen richtigen Ansturm auf griechische Geldhäuser geben. "Kapitalverkehrskontrollen oder ein "Bankfeiertag" sind Angelegenheiten für Griechenland", resümiert ein Diplomat.
"Wir kommen in völlig unbekannte Gewässer", meint der irische Ressortchef Michael Noonan. Schon am Dienstag steht eine Rückzahlung von rund 1,6 Milliarden Euro an den Internationalen Währungsfonds (IWF) an. IWF-Chefin Christine Lagarde hatte bereits unmissverständlich deutlich gemacht, dass ein Aufschub nicht gewährt wird, zumal es sich schon um eine gebündelte Summe für die gesamten Juni-Verpflichtungen handelt.
Griechenland kann nicht aus der Eurozone geworfen werden
Falls das Geld nicht fließt, ist Athen gegenüber dem Weltwährungsfonds in Verzug. Das bedeutet laut Experten noch nicht die Staatspleite - aber man wisse nicht, wie sich andere Gläubiger verhalten werden.
Die Euro-Minister können zwar Griechenlands Finanzminister Varoufakis ausschließen - Griechenland kann aber nicht aus der Eurozone geworfen werden, dann dafür gibt es keine vertragliche Grundlage. Was sich ereignet, falls Athen diesen Schritt selbst ins Spiel bringen sollte, wissen selbst Fachleute nicht. "Dafür gibt es weder Regeln noch einen Musterfall", lautet die Standardantwort.
"Die Griechen sollen am 5. Juli über ein Angebot abstimmen, das es nicht mehr gibt - das ist völlig absurd", bilanziert ein Diplomat mit hoffnungsloser Miene. Die Verlängerungsoption werde es von Dienstag 24 Uhr an nicht mehr geben, deshalb müsse sich die griechische Regierung Gedanken machen, ob das Referendum überhaupt noch Sinn mache.
Seit fünf Monaten ist die Regierung von Premier Alexis Tsipras an der Macht. Die Vertrauensbasis mit Brüssel ist inzwischen zerstört. Da die griechische Regierung das Sparpaket so negativ sehe, gebe es wenig Hoffnung, dass sie dieses nach einem "Ja" der Bürger "in einer richtigen und gewissenhaften Weise umsetzt", meint der sonst so beherrschte Niederländer Dijsselbloem. (dpa)