Essen. Der Notenschnitt beim Abitur steigt – in einigen Bundesländern mehr, in anderen weniger. Wird das Abi einfacher, oder gibt's nur noch Kuschel-Noten?

Der Chef des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, beklagt eine Entwertung des Abiturs durch zu gute Noten. Er zweifelt daran, „ob heute noch in vielen Fällen hinter der Studienberechtigung auch eine Studienbefähigung steht“. Manche Landesregierungen unterstützten noch den Trend zu Top-Noten, weil die Einsen als Beleg für gute Bildungspolitik dienen könnten.

Meidingers Kritik an der „massiven Zunahme von Einser-Schnitten“ fußt auf einer statistischen Auswertung des „Spiegel“: Fast überall in Deutschland verbesserten sich die Abi-Noten zwischen den Jahren 2006 und 2013. In NRW schafft heute etwa jeder vierte Abiturient eine Einser-Note, im Jahr 2006 waren es gerade 15 Prozent. In Thüringen erreichen sogar fast 40 Prozent der Abiturienten eine Eins. Der Abi-Notenschnitt liegt in NRW bei 2,46. Den Vorwurf eines „Kuschel-Abiturs“ in NRW weist das Schulministerium entschieden zurück. „NRW liegt im Bundestrend, was die Einser-Abis angeht“, so eine Sprecherin.

Trend zur Spitzennote könnte mit Zentral-Abi zusammenhängen

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW meint, der Trend zur Spitzennote könnte etwas mit dem Zentralabi zu tun haben: „Wenn Aufgaben gestellt werden, die möglichst alle bewältigen sollen, dann nivelliert sich der Schwierigkeitsgrad nach unten“, sagte Ilse Führer-Lehner zur WAZ.

Der Deutsche Hochschulverband (DHV) stützt Meidingers Hinweis auf die mangelnde Studienbefähigung. Auch der Verband beobachtet, dass immer mehr Studienanfänger trotz guter Noten nicht studierfähig seien und „Brückenkurse“ benötigten. „Aber auch an den Hochschulen selbst werden immer bessere Noten gegeben. Es gibt bei Professoren die Tendenz, Studierenden nicht mit schlechten Noten Lebenschancen zu verbauen“, sagte DHV-Sprecher Matthias Jaroch der WAZ.

Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm bezweifelt eine allgemeine Tendenz zum leichteren Abi. Das sei eine populäre, aber durch die Forschung widerlegte These. „Die Pisa-Studien haben gezeigt, dass mit der Expansion der Bildungsbeteiligung kein Leistungsabfall verbunden ist.“ Der hohe Zulauf an den Gymnasien habe nicht zu einem Niveauverlust geführt. Klemm hält wenig von einem bundesweiten Zentralabitur. Die Noten würden zwar vergleichbar, „damit mache ich aber den Schüler dafür verantwortlich, wenn er einen schlechten Lehrer hatte.“

Massive Zunahme von Einser-Schnitten

Jubel oder Tränen – in diesen Tagen erhalten die Abiturienten ihre Noten und in den allermeisten Fällen das begehrte Reifezeugnis. Nur 2,3 Prozent bestehen in NRW die Abiprüfung nicht. Das Ergebnis stellt die Weichen für die nächsten Schritte im Lebensweg. Reicht es für das Wunschstudium?

In einigen Bundesländern werden aber offenbar bessere Noten bejubelt als in anderen. In Thüringen lag der Noten-Schnitt im Jahr 2013 bei 2,17, in NRW bei 2,46 und in Niedersachsen bei 2,61. „Die nachweisbare massive Zunahme von Einser-Schnitten liegt mit Sicherheit nicht daran, dass in Deutschland bei Abiturienten plötzlich eine Leistungsexplosion stattgefunden hat“, kritisiert Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Vergeben die Lehrer etwa „Kuschelnoten“? Und ist es leichter, in Thüringen Abi zu machen – fast 40 Prozent der Abiturienten erreichen dort eine Eins – als in Schleswig-Holstein (rund 18 Prozent)?

Eltern fördern ihre Kinder gezielt

Einen Weg zu einer verbesserten Vergleichbarkeit sehen Experten in einem bundesweiten Zentralabitur. Die zuständigen Ressortchefs der Länder wollen in der anstehenden Sitzung der Kultusminister-Konferenz (KMK) dabei ein Stück vorankommen. Es geht um den Aufbau eines Aufgaben-Pools für Abiturklausuren bis 2017. Daran möchte sich auch NRW beteiligen – „wir liegen hier auf der Linie der KMK“, teilt das NRW-Schulministerium mit. Allerdings würden auch dann nicht alle Schüler in Deutschland identische Abituraufgaben lösen, es gebe auch weiterhin Wahlmöglichkeiten.

Auch in NRW sind die Abiturnoten nach Beobachtung des Ministeriums in den letzten Jahren kontinuierlich besser geworden. Das bedeute indes nicht, dass die Reifeprüfung insgesamt einfacher geworden sei. Von einer Krise des Abiturs könne keine Rede sein. Über die Gründe für diesen Trend gebe es noch keine wissenschaftliche Untersuchung, allerdings einige plausible Vermutungen. Viele Eltern aus der Baby-Boomer-Generation seien auf eine gute Entwicklung ihrer Kinder bedacht. Und entgegen aller Vorurteile sei die Schülerschaft insgesamt sehr leistungsbereit. Der doppelte Abijahrgang habe den Druck, eine gute Abschlussnote zu erreichen, noch verstärkt, um die Chance auf einen Studienplatz zu wahren.

Und überhaupt – die Vergleichbarkeit der Abi-Noten ist eine Krux. Wie will man die Leistungen der Schüler in 16 Bundesländern vergleichen, wenn bereits die Schulen in verschiedenen Stadtteilen ganz unterschiedliche Voraussetzungen bieten?, fragt der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm. Am Ende komme es immer auf den Lehrer an.

Deutschlandweiter Vergleich ist kaum möglich

Dieser Meinung ist auch Ulrich Czygan, Vorsitzender der Landeselternschaft der Gymnasien in NRW: „Wenn schon die Prüfungsaufgaben zwischen den Bundesländern derart variieren, wie soll dann ein deutschlandweiter Vergleich möglich sein?“ Auch die steigende Anzahl der Abiturienten generell sieht er eher kritisch, das Abitur müsse seinen Status als Studienberechtigung zurückerhalten.