Essen. Der Chef des Marburger Bundes plädiert für mehr Informationen, um Kliniken von Bagatellfällen zu entlasten - und bedauert das Ende der Praxisgebühr.
Der Vorstoß von Dr. Thomas Lipp, Notaufnahmen durch die Einführung von Gebühren für die Inanspruchnahme notärztlicher Leistungen zu entlasten, hat hohe Wellen geschlagen. Der Allgemeinmediziner und Vorsitzende des Hartmannbundes Sachsen hatte jüngst im Gespräch mit unserer Redaktion seine Forderung bekräftigt, der Kassenärztliche Notdienst solle künftig pauschal zehn Euro kosten, das Aufsuchen der Ambulanz sogar 20 Euro. Ausnahmen etwa für Hartz-IV-Empfänger solle es nicht geben. Hintergrund ist eine Studie der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), die jeden dritten Patienten in der Notaufnahme zum Bagatellfall erklärt.
Unsere Leserschaft debattierte den Vorstoß äußerst differenziert. Lipps Befürworter sehen die Notaufnahmen tatsächlich zu häufig mit Lappalien konfrontiert. Auf der anderen Seite gibt es die Kritik, dass im Falle einer Gebühr auch echte Notfälle zur Kasse gebeten würden. Und kaum ein Patient könne im Zweifel selbst einschätzen, ob sein Zustand tatsächlich akut behandlungsbedürftig ist.
Henke: "Nicht als Aufregerthema geeignet"
Rudolf Henke, Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund und Präsident der Ärztekammer Nordrhein, bestätigt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass Lipp zwar "vielen Ärzte aus der Seele" spreche, schließlich müsse ihnen eine vollständige Kostendeckung gewährleistet werden. Lipps an sich "hübsche Idee" aber sei aus politischer Sicht "weitab von jeder Realisierbarkeit". Daher sei dies nicht "als Aufregerthema geeignet".
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Henke räumt auch ein, dass es immer Patienten geben werde, die den krankenhäuslichen Notdienst "ausnutzen", führt dies aber auch auf die bundes- und weltweite Prägung der Menschen zurück, das Krankenhaus - und weniger die Notfallpraxen - als erste Anlaufstelle zu begreifen. Hier sieht Henke die Krankenkassen in der Pflicht, ihre Versicherten umfassender über die erste geeignete Anlaufstelle zu informieren: "Die Kassen erreichen alle und können helfen vorab zu sortieren."
Henke regt gemeinsam getragene Informationskampgane an
Ganz generell schwebt Henke die intensivere Kommunikation von Kassen, der Kassenärztlichen Vereinigung, den Krankenhäusern und den niedergelassenen Ärzten vor, um dem Ziel, die finanziellen Defizite in der Notfallmedizin zu reduzieren, näherzukommen. Eine gemeinsam getragene Informationskampagne könne darüber hinaus der Bevölkerung transparent machen, warum sie gegebenenfalls zusätzlich zur Kasse gebeten würde.
Praxisgebühr: Weiterentwickeln statt abschaffen
Die Abschaffung der Praxisgebühr zum Jahresbeginn 2013 sieht Henke skeptisch. Zusätzliche zwei Milliarden Euro jährlich habe diese in die Kassen gespült, "nun merkt man, dass dieses Geld fehlt und die Inanspruchnahme von Notdiensten gerade an Wochenenden wieder wächst." Statt die Praxisgebühr abzuschaffen hätte sich Henke eine "Weiterentwicklung des Modells" gewünscht. Die große Frage, die sich daraus ableitet, sei: Wie kann man künftig kostendeckend arbeiten, ohne zu "geldlichen Erziehungsmaßnahmen" greifen zu müssen?
Überfüllte Notaufnahmen wegen zu kurzer Praxisöffnungszeiten?
Ob man nun Thomas Lipps Argumentation folgt oder nicht - ein Umstand kam in der Argumentation unserer Nutzer immer wieder zum Tragen: die Notaufnahme als alternativloser Sachzwang infolge zu langer Wartezeiten bei Fachärzten und zu kurzer Praxisöffnungszeiten. So etwa bemängelt Nutzer "Towaubo": "Fakt ist, dass man oft trotz Schmerzen und Überweisung zum Facharzt keinen schnellen Termin bekommt. Und wenn ich dann sehe, dass nicht nur die Fachärzte, sondern auch die Hausärzte Freitagmittag ihre Praxis schließen, muss man sich nicht wundern."
Auch der Krankenkassen-Spitzenverband GKV wähnt hinter dem "häufigeren Gang in die Notaufnahme das Ergebnis eines eventuell unzureichenden Wochenenddienstes der niedergelassenen Ärzte". Fühlen sich Versicherte in einem Gebiet permanent unterversorgt, solle man seine Krankenkasse auch gezielt darauf hinweisen, rät Ann Marini, stellvertretende GKV-Pressesprecherin, auf Anfrage unserer Redaktion. Die Krankenkassen nämlich sind Vertragspartner der KV und könnten als solche daraufhin aktiv werden.
Budgetgrenzen für Ärzte sind schnell erreicht
Schon im Gespräch mit der "Thüringer Allgemeinen" im Dezember kritisierte Marini zu kurze Praxisöffnungszeiten: "Bei einem vollen Arztsitz muss ein niedergelassener Mediziner nur mindestens 20 Wochenstunden leisten, um die Zulassung zu behalten." Dem Honorar der Krankenkassen, das den niedergelassenen Ärzten über die KV mittels eines Verteilungsmaßstabs zukommt und einer Praxis-bezogenen, pauschalen Obergrenze unterliegt, wird hingegen ein Aufwand von 50 Wochenstunden zugrundegelegt.
Überspitzt lässt sich das so ausdrücken: Kann ein Vertragsarzt seinen Umsatz nach der Hälfte der Woche eh nicht mehr steigern, kann er die Praxis auch gleich früher schließen.