Oklahoma City. Vor 20 Jahren erschütterte eine Bombe Oklahoma City: Am 19. April 1995 hatte der Rechtsextremist Timothy McVeigh das Gebäude einer Bundesbehörde in die Luft gesprengt und 168 Menschen getötet.
Sie ist 22 Jahre alt, frisch geschieden und hat zwei kleine Söhne. Der 19. April 1995 beginnt für Edye Lucas darum wie immer: beschwerlich. Auf dem Weg zur Arbeit bei der Steuerbehörde IRS im Herzen der Innenstadt von Oklahoma City setzt die junge Mutter wie jeden Wochentag den kleinen Chase und den kleinen Colton im Kindergarten im Alfred P. Murrah-Building ab. Ihr Büro um die Ecke erreicht sie nach kurzem Zwischenspurt. Dort wartet eine nette Überraschung auf die Frau mit den roten Haaren. Eine Geburtstagstorte, wie lieb von den Kollegen. Edye Lucas wird den Moment nie vergessen, als sie die Kerzen ausblies.
Um Punkt 9 Uhr 2 geht vor dem Eingang des Alfred P. Murrah Building ein mit fast 5000 Pfund Benzin und dem Düngemittel Ammoniumnitrat beladener Kleinlaster hoch. Die Explosion schlägt eine riesige Wunde in das neunstöckige Gebäude der Bundesverwaltung. Die Wucht der Detonation ist so gewaltig, dass fast 300 Häuser im Umkreis beschädigt werden. Die Erschütterungen sind 25 Kilometer weit zu spüren. 168 Menschen sterben, darunter neben Chase und Colton 17 weitere Kinder, die im „American Day Care Center“ spielen. Über 500 Menschen werden verletzt beim bis dahin größten Terroranschlag auf amerikanischem Boden.
Und Edye Lucas stellt sich 20 Jahre danach immer noch die gleiche Frage: „Warum?“.
Beten für die Opfer des Terrors von Oklahoma City
Gemeinsam mit Hunderten anderen Hinterbliebenen wird Edye Lucas, die danach erneut Mutter geworden ist, am Sonntag um 9.02 Uhr still auf der Wiese mit den 168 Stühlen aus Bronze und Glas stehen und beten. Sie bilden das Herzstück der imposant unaufdringlichen Nationalen Gedenkstätte, die das deutsch-amerikanische Architekten-Paar Butzer behutsam an die Stelle gesetzt hat, an der Timothy James McVeigh seinen abgrundtiefen Hass ausließ.
Der Massenmörder von Oklahoma-City, Jahrgang 1968, wurde 90 Minuten nach der Explosion auf der Flucht durch Zufall festgenommen. An seinem beige-farbenen Mercury fehlte das Nummernschild, was einem Polizisten aufgefallen war. Chemiker fanden auf der Hose des aus Pendleton/New York stammenden Mannes Reste des Zündkabels. Schon bald danach gestand McVeigh die Tat.
Täter Timothy McVeigh wurde 2001 hingerichtet
Weil unter den 450.000 Einwohnern von Oklahoma City keine zwölf unbefangenen Geschworenen gefunden werden konnte, wurde der Prozess in das 1000 Kilometer entfernte Colorado verlegt. Für Überlebende und Angehörige ein Martyrium. McVeigh saß auf der Anklagebank und lächelte süffisant. Der Schriftsteller Gore Vidal adelte das „Monster“ mit einem Briefwechsel. Das Urteil in Denver lautete: Todesstrafe.
Am 11. Juni 2001 wurde der McVeigh im Staatsgefängnis von Terre Haute/Indiana mit der Giftspritze hingerichtet. Ohne Reue-Bekenntnis in letzter Minute. Es war erste Exekution eines Bundesgerichts seit 38 Jahren. Als Henkersmahlzeit bestellte er Pfefferminzeis mit Schokolade. Sein einziger Komplize, Terry Nichols, sitzt bis an sein Lebensende im Zuchthaus. Er hat sich für seinen Anteil an der Katastrophe von Oklahoma City mehrfach entschuldigt.
Noch heute bringt der zu Lebzeiten hagere, blasse McVeigh viele Menschen in der Stadt im Mittleren Westen um den Schlaf. Zehntausende nahmen nach dem Attentat wochenlang an Gruppen-Therapien teil. Um zu verarbeiten, was sich damals, lange vor 9/11, Al-Kaida und den Twin Towern von New York, so neu anfühlte: Ein Amerikaner, der Amerikaner tötet.
Massenmörder hielt sich für einen amerikanischen Patrioten
Timothy McVeigh war, wie zunächst reflexartig vermutet, kein Turbanträger, der für Allah gegen den großen Satan Amerika kämpfte. Der Mörder von Oklahoma City hielt sich für einen amerikanischen Patrioten reinsten Wassers. Im Golfkrieg 1991 kämpfte er für sein Land und bekam dafür einen Orden. Nach seiner Rückkehr fiel er durch den Rost, irrte ziellos und deprimiert umher. Und erklärte schließlich den Staat zum Feind. Timothy McVeigh trug am Tag der Tat ein T-Shirt mit einem gründlich falsch verstandenen Zitat von Präsident Thomas Jefferson: „Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit erfrischt werden mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen.“
McVeighs Massenmord am eigenen Volk legte zum ersten Mal vor aller Welt den Blick frei auf ein anderes Amerika. Ein Amerika, in dem unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit religiöser Eifer, Verschwörungstheorien, übersteigerter Patriotismus und militante Paranoia wabern. Ein Amerika, in dem das Weiße Haus und das Kapitol nebenan als Hauptquartiere einer Weltverschwörung gelten. Als „ZOG“. „Zionist Occupied Government“. Als zionistisch besetzte Regierung.
Der Hass auf die staatliche Zentralgewalt
Weltuntergangssekten, antisemitische Bünde, radikale Öko-Krieger, paramilitärische Milizen, gewaltbereite Tierschützer und neonazistisch grundierte Fanatiker mögen im Detail sehr verschiedene Ziele verfolgen. Der Kitt, der sie zusammenhält, ist der Hass auf die staatliche Zentralgewalt. Washington ist ihr Teufel. Die Stadt, „in der die Freiheit des amerikanischen Volkes Stück für Stück zugrunde gerichtet wird“, wie es in einem Internet-Eintrag der „Aryan Nations“ heißt, einem besonders aggressiven Tummelplatz weißer Rassisten.
Timothy McVeigh bewegte sich lange in diesen Kreisen, war Mitglied des rassistischen Ku Klux Klan und anderer Sektierer. Er verkaufte die „Turner Diaries“, einen Roman des Gründers der neonazistischen „National Alliance“, der mit Adolf Hitlers Weltanschauung sympathisiert und einen Anschlag auf die Zentrale der Bundespolizei FBI beschreibt; inklusive eines explodierenden Lastwagens.
McVeigh plante und vollzog den Anschlag weitgehend allein
Was die Ermittler über Monate zusammentrugen, fügte sich zu einem alarmierenden Bild, das seinen Schrecken bis heute nicht verloren hat. Timothy McVeigh mag eingebettet gewesen sein in ein radikales Umfeld. Den blutigen Akt geplant und vollzogen hat der „homegrown terrorist“ weitgehend allein. Wie viele „einsame Wölfe“, wie viele „tickende Zeitbomben“ würde es noch geben?
Die damalige Regierung unter Bill Clinton reagierte unerbittlich. Das FBI bekam 500 Agenten zusätzlich. Das rechtsradikale Unterholz Amerikas wurde gerodet wie selten zuvor. Es gab Verhaftungen. Die Zahl der organisierten Staatsfeinde ging drastisch zurück. Dann kam der 11. September 2001. Und Amerika richtete die Augen nur noch auf die islamistische Gefahr. Fatal. Denn Extremismus-Experten halten das Risiko eines zweiten Oklahoma für hoch.
Experten halten Risiko eines weiteren Anschlags für groß
„Es ist nur Ausdruck großen Glücks, dass es bislang zu keinem weiteren großen Anschlag gekommen ist“, sagte Mark Potok vom „Southern Poverty Law Center“ (SPLC) dieser Zeitung. Potok schrieb als Journalist über den Anschlag und den Prozess gegen McVeigh. Heute arbeitet er für die renommierte Forschungseinrichtung in Montgomery/Alabama, die seit der Wahl von Präsident Obama einen massiven Zulauf in den extremistischen Milieus feststellt. Von knapp 150 Gruppen 2008 sei die Zahl der so genannten „Hass-Gruppen“, die gegen die Regierung Front machen, auf über 1000 gestiegen.
Mehr noch. Laut Potok sind seit den Anschlägen vom 11. September 2001 „mehr Amerikaner durch inländische Terroristen als durch radikale Muslime ums Leben gekommen“. Von über 60 Fällen ist die Rede. Viele Medien und weite Teile der Politik verschlössen vor der hausgemachten Gefahr die Augen, sagt Potok und deutet eine stille Komplizenschaft an. „Die politische Rechte ist im Geiste mit vielen Radikalen assoziiert. Sie sehen die Regierung auch als Gegner der Freiheit.“
Immer wieder Fälle von rechter Gewalt
Als Beleg führt der Bürgerrechtsanwalt an, dass der radikal-populistische Tea Party-Arm der Republikaner schon vor fünf Jahren den 15. Jahrestag des Attentats in Oklahoma-City aggressiv zum Anlass nahm, um in den Hauptstädten vieler Bundesstaaten gegen die Regierung in Washington Sturm zu laufen. Nicht nur die als linksliberal geltenden Leute vom Southern Law Poverty Center erklären sich so die jüngsten Fälle extremer Gewalt.
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Im vergangenen Sommer erschoss der Rechtsradikale Jerad Miller in Las Vegas zwei Polizisten und einen Passanten. An den Leichen wurde eine „Don't Tread on Me“-Flagge abgelegt; das Emblem der rechtsradikalen Patriot-Bewegung. Übersetzt: "Komm mir nicht zu nahe". Miller hatte seinen Amoklauf auf Facebook mit diesem Eintrag angekündigt. „Die Unterdrückung kann nur noch aufgehalten werden, wenn wir Blut vergießen.“ Die Schießerei war bereits die dritte ihrer Art seit 2012. Damals stürmte der weiße Neonazi Wade Michael Page während einer Andacht in einen Sikh Tempel in Wisconsin und ermordete sechs Menschen. Vor einem Jahr richtete Glenn Miller unter „Heil Hitler“-Rufen vor einem jüdischen Gemeindezentrum in Kansas City drei Menschen hin.
Mark Potok hält die Gefahr für die innere Sicherheit des Landes, die von bis an die Zähne bewaffneten Extremisten ausgeht, für weit größer als den islamistischen Terrorismus. Dass Washington das Thema ausblendet, sei „absolut fürchterlich“. Das Ignorieren könne Amerika teuer zu stehen kommen. Mark Potok wird am Sonntag um 9.02 Uhr - wie Edye Lucas - eine Schweigeminute einlegen. „Wenn ich an Oklahoma denke, denke ich sofort an die Kinder, die damals starben.“