Haltern. . Beim Gottesdienst für die Absturzopfer rückt Haltern zusammen. Ein Alltag ist noch längst nicht möglich, die Verarbeitung beginnt gerade erst.
Eine Woche danach will Haltern nur noch allein sein. „Es geht einfach nicht mehr“, sagt der Stadtsprecher. „Wir können nicht mehr“, soll der Schulleiter gesagt haben; all das öffentliche Leid, die Interviews: „Bitte“, heißt es aus dem Rathaus, „lasst uns jetzt mal in Ruhe trauern.“ Ein Gottesdienst am Mittwochabend soll eine Art vorläufiger Abschluss sein, eine Woche nach dem Flugzeugabsturz, bei dem 16 Schüler und zwei Lehrerinnen des örtlichen Gymnasiums starben.
Aber Haltern ist nicht allein, und das ist gerade gut so. Alle sagen das in der St.-Sixtus-Kirche, die so voll wird, dass die Menschen sich auch noch auf dem Marktplatz drängen, in Sturm und Schneeregen eng zusammen. „Wir sind nicht allein“, sagt Pfarrer Martin Ahls, „miteinander da sein und weinen, das können wir.“ Man wolle für sie da sein, wendet sich Bürgermeister Bodo Klimpel an die Familien: „Sie sind nicht allein.” Und auch die Opfer sind es nicht, spricht eine Schülerin schluchzend ins Mikrofon, es wird nach draußen übertragen: „Wir hoffen, ihr seid zusammen, da, wo ihr jetzt seid.“ Er habe nicht gewusst, sagt Pfarrer Karl Henschel in seiner Predigt, „dass eine Stadt trauern kann“.
Auf dem Schulhof des Joseph-König-Gymnasiums hat der Wind die Kerzen derweil ausgeblasen, in den Grablichten steht das Wasser. Doch die Tulpen, vor Tagen schon hier abgelegt, recken die Blütenköpfe in den Himmel. Die Rollläden vieler Klassenzimmer sind heruntergelassen, „die Schule ist stumm“, schrieb jemand auf einen Zettel.
Aber die Tür steht offen, trotz der Ferien. Hier finden die Traurigen ihren Rückzugsort: Die Aula ist zur Trauerhalle geworden, weiße Kerzen mit den Namen der Opfer brennen auf der Bühne, die Wände hängen voller Bilder und Briefe. Auf Tischen liegen Beileidskarten, Unterschriftenlisten mit schwarzem Rand, geschickt von Schulen aus dem ganzen Land. Im Hintergrund spielt leise Klaviermusik.
Kleinere Schüler haben mit Buntstiften Flugzeuge gemalt, größere schrieben Gedichte, sie erinnern sich: wie einer den FC Schalke liebte, wie die Lehrerin je nach Laune ihre Haare trug, „jedenfalls erzählten wir uns das so“. Wie fröhlich sie alle waren, die nun nicht mehr wiederkommen; man sieht das auf den vielen Fotos: langhaarige junge Mädchen, die lachend Grimassen schneiden. „Ihr werdet immer bei uns sein“, schreibt die Jahrgangsstufe, und ein Schüler: „Ihr fliegt nur höher.“
10 000 Einträge im Kondolenzbuch
Auf der Internetseite der Schule vermerkten Hunderte ihr Beileid, aus Mallorca, Schweden und den USA. Über 10 000 Mitfühlende aus aller Welt trugen sich ins Kondolenzbuch der Stadt ein, die Briefe ans Rathaus füllen inzwischen sechs Ordner. Bürgermeister Klimpel, der selbst einen Sohn an der Schule hat, meldete sich per Facebook bei seinen Bürgern: „Ich bin vollkommen überwältigt von der großen Anteilnahme.“ Schön sei, wie die Stadt zusammenrücke, wie Nachbarn miteinander ins Gespräch kämen, Menschen diskutierten, wie sie helfen könnten. „Das hat mich stolz gemacht auf unsere Stadt.“
Und die Halterner sind stolz auf ihren Bürgermeister. Dass er Gefühle zeigte vor den Fernsehkameras, erfüllt sie mit „Hochachtung“, es hat sie getröstet: Auch der erste Bürger ihrer Stadt weint.
Wie der Schulleiter. Ulrich Wessel eilt auch an diesem Mittwoch zwischen Schule und Kirche hin und her, mit schwarzem Mantel und tief zerfurchtem Gesicht. Einer Zeitung sagte er zu Wochenbeginn: „Meine Trauer ist ein Fliegendreck gegen das, was die Angehörigen durchmachen.“ In der Kirche erinnert er sich, was er den Kolleginnen mit auf den Reiseweg gab: „Bringen Sie alle heil wieder. Wie leer das heute klingt.“
Über ganz Haltern liegt ein Schleier, seit die Stadt weiß, dass niemand wiederkommen wird aus Spanien, wenn jemand redet, dann über die Stille. „Man möchte gar nicht rausgehen“, sagt eine 25-Jährige, es gibt ja kein anderes Thema.
Die Leute beschränkten sich auf das Nötigste, haben die Einzelhändler bemerkt, niemand geht bummeln in diesen Tagen. Aber das Leben geht doch weiter: Im Internet meldet Sabine einen Abfallhaufen auf einem Parkplatz. Es wirkt banal.
Man könnte über das Wetter reden, das Graupel über den Marktplatz fegt und die Flaggen auf Halbmast heulen lässt, aber nicht einmal das ist ein Thema in Haltern. Der Gottesdienst, ein Abschluss? Niemand kann hier schon abschließen, das wissen sie im Rathaus auch, „ein Alltag ist nicht möglich“. Als sich die Menge auflöst, hängen noch die Namen der toten Jugendlichen in der Luft, verlesen in der Kirche. Auf dem Pflaster liegen nasse Taschentücher.