Essen. Der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz über den Links-Drall des gesamten Parteiensystems, die schweigende Angst der Konservativen und den verführerischen Traum von der Gleichheit. Und warum das Internet die einzige Hoffnung für mehr Meinungsvielfalt ist.

Herr Bolz, lassen Sie uns über das Konservative und das Liberale im Wahlkampf reden...

Norbert Bolz: Oh, das wird aber ein kurzes Gespräch.

...genauer, warum solche Themen überhaupt keine Rolle spielen.

Bolz: Gegen den flächendeckenden Eindruck, dass der Kapitalismus böse ist, ist zurzeit kein Kraut gewachsen. Es wäre für einen Politiker tödlich, in der Öffentlichkeit etwa als pronocierter Befürworter der Marktwirtschaft aufzutreten, gar deren Erfolge zu benennen. Der tiefgreifendere Grund für das Schweigen ist, dass es in Deutschland überhaupt keine liberale Tradition gibt. Deutschland ist wie kein anderes Land prädestiniert für das Soziale, da gibt es eine Kontinuität von Bismarck bis Angela Merkel. Die Deutschen sind geborene Sozialdemokraten. Ironie der Geschichte ist nur, dass die SPD davon am wenigsten profitiert.

Die Parteien bewerten die Krise alle ähnlich?

Bolz: Ja, indem sie alle Ängste und Unsicherheiten auf ein Feindbild fokussieren, auf einen Sündenbock. Das sind die Manager. Sie werden im Wahlkampf kein gutes Wort über Manager hören, von niemandem. Erstaunlicherwiese funktioniert der alte Sündenbock des raffgierigen Kapitalisten immer noch sehr gut, obwohl mancher meinte, die Welt hätte sich damit abgefunden, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt.

Nun gibt es aber doch genug Politiker, die intelligent genug sind, um differenzierter zu argumentieren.

Bolz: Die Politiker wissen es fast alle in Wahrheit besser. Ich glaube keineswegs, dass sie glauben, was sie sagen, das ist reine Schaufenster-Rhetorik. Die Frage, warum man dennoch keine anderen Positionen artikuliert, ist einfach zu beantworten: Man kann gegen die öffentliche Meinung keine Politik machen, wenn man gewählt werden will. Alle haben dieses untrügliche Gespür, dass das antikapitalistische Ressentiment übermächtig ist. Jede Differenzierung richtet sich gegen den, der sie unternimmt. Wenn sie nicht offensiv antikapitalistisch argumentieren, gelten sie automatisch als Verfechter des Turbo-Kapitalismus. Dem möchte sich nicht mal mehr die FDP aussetzen.

Es war aber auch schon vor der Krise schwierig, liberal oder konservativ zu argumentieren.

Bolz: Das ist richtig. Von der Tradition des Sozialstaats und dem fehlenden Liberalismus haben wir schon gesprochen. Was das Konservative betrifft, gibt es ja schon lange keinen mehr, der den Begriff verteidigt. Konservativ wird gleichgesetzt mit „Rechts”, es wird eine Nähe zum Nationalsozialismus konstruiert, die völlig abwegig ist. Der Nationalsozialismus war alles, aber nicht konservativ. Interessante Differenzierungen wie etwa die, dass konservative, also bewahrende Positionen gerade auf der Linken zu finden sind, gehen da unter. Es sind ja Linke und Gewerkschafter, die sich gegen die Globalisierung wehren und nationale Wirtschaftsstrukturen eher erhalten wollen. Die Grünen sind zum Beispiel eine linke Partei mit einer zutiefst konservativen Programmatik.

Man hat den Eindruck, dass konservative Positionen sehr viel leichter skandalisierbar und für Kampagnen nutzbar sind als linke. Ist das so und wenn ja, warum?

Bolz: Das ist so. Der Grund ist banal. Die öffentliche Meinung wird von den Massenmedien produziert, und in Deutschland gibt es mehr als in allen anderen mir bekannten westlichen Ländern einen Meinungsjournalismus, der praktisch durchgehend links ist. Wenn man das weiß, ist es nicht mehr erstaunlich, dass die FDP in eine Outlaw-Position geraten ist, während die Partei Die Linke medial voll akzeptiert ist. Wie schnell und selbstverständlich das gegangen ist, etwa in Talkshows, das ist schon verblüffend. Während die FDP sich durchaus bohrenden Fragen zu stellen hat, kann die Linke auftrumpfen. Das ist nur durch tiefsitzende Ressentiments der Journalisten zu erklären.

Fällt konservativen oder liberalen Politikern sowas noch auf oder gilt es als normal, als unveränderbar?

Bolz: Ich denke schon, dass es einigen auffällt. Wenn sie es sagen, gilt das aber als taktisch unklug, und die Leute verschwinden aus dem parteiinternen Diskurs. Wie die CDU mit ihren intelligentesten Köpfen umgegangen ist, etwa mit Friedrich Merz, hat man ja gesehen. Oder schauen sie sich den parlamentarischen Geschäftsführer Norbert Röttgen an. Der hat auch gemerkt, dass man besser nicht zu viel denken darf, wenn man Karriere machen will, und Röttgen ist ein sehr intelligenter Typ, der vieles durchschaut. Einige, die es besser wissen, sagen einfach das, was angesagt ist, oder sie gehen wie der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach ein Stück in die innere Emigration.

Das Soziale ist heute eine Ersatzreligion für den verloren gegangen Glauben an Gott, schreiben sie in Ihrem neuen Buch. Ist das nicht reichlich übertrieben?

Bolz: Keineswegs. Sozial ist das Gott-Wort unserer Zeit, keine Partei kann es sich leisten, es nicht auf ihre Fahnen zu schreiben. Sozial heißt vor allem Sicherheit vor den Unbilden der Welt und des Lebens, Sozial heißt: Schützt uns vor der Freiheit! Vor allem in Deutschland gibt es nun einmal extrem starke Angst vor der Freiheit.

Rund die Hälfte aller Haushalte lebt inzwischen von Transfereinkommen, von staatlicher Unterstützung oder durch staatlich organisierte Versicherungsleistungen. Der hohe Stellenwert der Sicherheit ist da doch logisch.

Bolz: Die programmierte und die erlernte Hilflosigkeit ist das größte Problem überhaupt und führt in einen Teufelskreis. Man wird hilflos gemacht und dann abhängig von den Leistungen des Staates und gerade diese Abhängigkeit verstärkt wieder die Hilflosigkeit. Am Ende sieht es so aus, als wären Menschen generell angewiesen auf die Hilfe von Vater Staat. Das ist das eigentlich Demoralisierende. Es ist natürlich verführerisch für Politiker, auf diese Masse der Hilflosen zu setzen und sie zu ködern. Nehmen Sie das Beispiel Berlin: Ich bin überzeugt, dass Klaus Wowereit erst dann nicht mehr Regierender Bürgermeister ist, wenn die Wirtschaft in Berlin anspringt und wieder mehr Leute Lust haben, selbst für ihr Dasein zu sorgen. Das wird aber nicht geschehen.

Zur Person

Norbert Bolz, Jahrgang 1953, ist Medien- und Kommunikationstheoretiker und - gewissermaßen im Nebenberuf - Philosoph mit einem strikt liberal-konservativen Welt- und Menschenbild.

Bolz ist einer der schillerndsten Figuren im Wissenschaftsbetrieb, hat von 1992 bis 2002 an der Uni Essen gearbeitet, lehrt seither als Professor an der TU Berlin und ist Autor zahlreicher Bücher. Sein neuestes heißt "Diskurs über die Ungleichheit" und ist im Verlag Wilhelm Fink, München (Euro 16,90) erschienen.

Linke sagen, wir hatten zuviel wirtschaftliche Freiheit, und das Pendel schlägt nun eben zurück.

Bolz: Wenn man die Finanzkrise als Beispiel für zuviel Freiheit nennt, zeigt das nur, worum es wirklich geht: nämlich um die Bedrohung durch etwas Undurchschaubares. Man macht sich ein Bild, an das man sich klammern kann, das sind dann die bösen Casino-Kapitalisten, das böse Gesicht der Freiheit. So erhält die Politik die Begründung dafür, warum genau das Gegenteil zwingend nötig ist: staatliche Bevormundung. Der Staat soll die totale Sicherheit schaffen und die Menschen entlasten von den schwersten aller Bürden, nämlich der Verantwortung für sich selbst

Und in Wahrheit ist alles viel komplizierter?

Bolz: Vermutlich ja. Ein paar Interpretationen dieser Weltkrise zeigen ja in eine ganz andere Richtung: Da gab es das jahrzehntelange Programm der amerikanischen Regierung, Wohneigentum für alle zu ermöglichen, die Anweisung an die Finanzinstitute, jedem über Schulden zu Wohneigentum zu verhelfen. Dann wäre diejenige Institution, die sich jetzt als Retter geriert – der Staat – letztlich auch der Verursacher des ganzen Prozesses. Gut, das ist wahrscheinlich auch nur die halbe Wahrheit, aber es zeigt doch, wie wenig man über das weiß, was passiert ist. Es ist sowieso zu befürchten, dass in einer globalisierten Welt Krisen solcher Art auch in Zukunft dazugehören.

Sie meinen, ein Schlagwort wie „Die Gier der Manager” ist der Versuch, eine undurchschaubare Welt einfacher zu machen?

Bolz: Genau. Und dahinter steckt die Angst vor einer komplizierten Moderne. Das ist der innerste Kern. Und man muss es ja zugeben, es ist auch wirklich vieles undurchschaubar. Was wäre denn für normale Menschen die Alternative zum Sicherheitsdenken? Man kann elegante Formulierungen finden wie „Liebe zum Ungewissen” oder so. Aber wer kann sich das schon existenziell leisten, eine ungewisse Zukunft als Chance zu interpretieren, als Spielfläche der eigenen Entwurfsmöglichkeiten. Dass alle Zukunft ungewiss ist, ist eigentlich nur ein anderer Name für Freiheit. Aber wem wollen Sie das verkaufen?

Die Vernunft könnte uns sagen, dass erst die Entfesselung der Freiheit den gesellschaftlichenn und wirtschaftlichen Fortschritt gebracht hat, den wir heute genießen.

Bolz: Mit der Freiheit ist es so eine Sache. Alle sind dafür, solange sie fehlt. Und alle vergessen ihren Wert, sobald sie sie haben. Es gehört für mich als Wahl-Berliner und sentimentaler Zeitgenosse zu den größten Enttäuschungen der letzten Jahre, wie schnell wir die Freiheit der Ostdeutschen als vernachlässigbare Größe angesehen haben. Wieviele haben noch vor kurzem unter der Tyrannei gelitten? Aber mit der Erinnerung können sie keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Ich finde das schrecklich, aber für die meisten ist es das offenbar nicht.

Freiheit bedeutet, die Kultur des Unterschieds zu akzeptieren, vielleicht sogar zu begrüßen.

Bolz: ...und das kann kaum jemand. Da ist schon der simple Mechanismus des Neids vor. Es gibt ja den guten Neid: Ich sehe, dass es dem anderen besser geht als mir, das möchte ich auch haben. Der schlechte: Ich muss den anderen runter auf mein Niveau ziehen. Das ist leider Gottes der Neid, der bei uns in Deutschland vorherrscht. Menschlich ist das absolut verständlich.

Warum?

Bolz: Ein schwedischer Politiker hat zur Beschreibung der skandinavischen Egalität mal ein schönes Bild gebraucht: Wir wollen keine Wiese mit bunten Blumen, sondern einen gleichmäßig gemähten Rasen. Denn wenn man nur ein vertrockneter Grashalm ist, dann ist es scheußlich, eine schöne Blume neben sich zu haben. Wenn aber alle schmucklose Halme sind, dann gibt es keine Probleme. Die Empfindlichkeit wächst sogar noch, je geringer die Unterschiede sind. Die Sehnsucht nach Gleichheit ist tendenziell grenzenlos. Letztlich kann man Gleichheit daher nur durch vollendete Unfreiheit erreichen.

Aber die Leute macht doch ganz im Gegenteil wild, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht.

Bolz: Gehen wir mal davon aus, dass das wirklich so ist. Dann mus man trotzdem fragen, wer vergleicht sich da eigentlich mit wem? Die Leute vergleichen sich mit Menschen, mit denen sie sich eigentlich gar nicht vergleichen können, auch wenn ihnen das als demokratisches Urrecht immer wieder gepredigt wird. Hier kommen die Massenmedien ins Spiel, die das Leben der anderen zeigen, der Reichen und der Schönen. Es liegt in der Natur der Sache, dass man sich daran misst und zu der Schlussfolgerung kommt, dass es einem selbst schlechter geht. Dann genügt ein simpler Hinweis auf die Gleichheit aller Menschen, um die Frage zu provozieren, wie das zu rechtfertigen ist.

Und warum ist es Ihrer Ansicht nach gerechtfertigt?

Bolz: Vielfalt und Freiheit machen das Leben lebenswert - und beides gibt es nur durch Ungleichheit. Gleichheit gibt es sinnvoll nur vor Gott und vor dem Gesetz - alles andere ist totalitär.

Sie behaupten, Medien wären die großen Gleichmacher. Gesetzt den Fall das stimmt, warum ist es so?

Bolz: Medien werden von Intellektuellen gemacht, und die sind in der Regel links. Vor allem aber führen sie die Sonde der Gleichheit in die Gesellschaft ein. Die Massenmedien operieren mit der Erwartung von Gleichheit. Wenn man das tut, kann als Ergebnis immer nur Ungleichheit herauskommen, also Skandale am laufenden Band. Das ist natürlich auch ein Überlebensmechanismus. Würden Massenmedien keine Skandale anprangern, würde sich niemand für sie interessieren. Deshalb heizen die Medien diese Ressentiment-Diskussion unentwegt an. Es wäre falsch, würde man erwarten, Massenmedien wirkten aufklärerisch. Das ist eine schöne Utopie.

Und in Zeiten des Internets wird alles noch schlimmer?

Bolz: Das gerade nicht. Im Internet ist es viel leichter als in klassischen Medien, auch mal abweichende Meinungen zu artikulieren und zu diskutieren. Hingegen haben die klassischen Massenmedien weltweit eine Tendenz zur Homogenität. Selbst der Konkurrenzdruck führt kaum dazu, dass sich das ändert, was offenbar eine Folge des Herdentriebs der meisten Journalisten ist. Für mich als Medienwissenschaftler ist das immer wieder erstaunlich.

Angela Merkel hat also alles richtig gemacht, als sie unter Verzicht auf liberale und konservative Inhalte in den Wahlkampf ging?

Bolz: Machtpolitisch betrachtet finde ich es genial was Frau Merkel macht, ja. Sie hat eindeutig kein programmatisches Ziel, sondern will einfach an der Macht bleiben. Das wird ihr wahrscheinlich genau so auch gelingen. Vermutlich bekommt sie soviele Prozentpunkte, dass sie Kanzlerin bleiben kann ohne über bürgerliche Programmatik nachzudenken zu müssen. Realpolitisch ist das zu bewundern. Andererseits ist es schon traurig, dass man gar nicht mehr weiß, worum es in der Wahl eigentlich geht. Man muss wohl Abschied von der Vorstellung nehmen, dass in der Politik auch um Ideen gerungen wird. Vielleicht ist Politik aber sowieso viel unwichtiger als es in den Medien dargestellt wird.

Vielleicht funktioniert ein Land ja sogar ohne ernsthafte Politik. Italien macht es immer wieder vor.

Bolz: (lacht) Ja, genau, das ist ein wunderbares Beispiel.