Essen. Es gibt nur wenige Reden deutscher Politiker nach dem Krieg, die die Geschichte der Bundesrepublik nachhaltig geprägt haben. Richard von Weizsäcker hat 1985 solch eine Rede gehalten. Es war eine Sternstunde der Politik.

Als Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bonner Bundestag ans Rednerpult tritt, um seine Rede aus Anlass des 40. Jahrestags des Ende des 2. Weltkriegs zu halten, erwarten wohl die meisten Besucher das, was bei solchen Gelegenheiten eben zu erwarten ist - getragene Worte, Gedenken an die Opfer, Mahnung an die junge Generation: Nie wieder Krieg. Doch es kommt anders. Die Zuhörer werden Zeugen einer Sensation.

Denn Weizsäcker redet Klartext.

Gleich in dreifacher Hinsicht provoziert der Präsident vor allem seine Zuhörer aus den eigenen Reihen, der CDU. Weizsäcker erklärt, die Mehrheit der Deutschen sei für die Verbrechen der Nationalsozialisten verantwortlich gewesen, also nicht allein Hitler und seine Nazi-Oberen.

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Verantwortung aller Deutschen

Ebenso wenig der Friedensvertrag von Versailles 1919. Und die Ursache des großen Leids der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit sei auch nicht die Eroberung Deutschlands durch die alliierten Truppen gewesen, denn: "Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen." Jener Tag, an dem Hitler die Macht an sich riss.

Ungläubige Blicke unter den Zuhörern. Vor allem auf Seiten der Sozialdemokraten erhebt sich spontaner Beifall. Betretene Gesichter dagegen in den Reihen der Union. Kriegsschuld, Vertreibung, der 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung", so Weizsäcker, statt als Stunde der Niederlage - das waren Themen und Thesen, die so manchem Konservativen überhaupt nicht ins sorgsam zurechtgerückte konservative Geschichtsbild passten.

Erinnerungen an von Weizsäcker

Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist am Samstag im Alter von 94 Jahren gestorben.
Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist am Samstag im Alter von 94 Jahren gestorben. © dpa
Der CDU-Politiker von Weizsäcker war von 1984 bis 1994 Bundespräsident - er beeinflusste mit wegweisenden Reden das politische Klima in Deutschland ...
Der CDU-Politiker von Weizsäcker war von 1984 bis 1994 Bundespräsident - er beeinflusste mit wegweisenden Reden das politische Klima in Deutschland ... © dpa
... und scheute auch nicht vor Konflikten mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) zurück.
... und scheute auch nicht vor Konflikten mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) zurück. © dpa
Gemeinsam feierten sie am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit im wiedervereinigten Berlin.
Gemeinsam feierten sie am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit im wiedervereinigten Berlin. © dpa
Nach seinem Amtsantritt hatte er versprochen,
Nach seinem Amtsantritt hatte er versprochen, "Präsident aller Bürger" sein zu wollen. © dpa
Max Schmeling (l-r), Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Heinz Rühmann bei einem Empfang 1990 im Berliner Schloss Bellevue.
Max Schmeling (l-r), Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Heinz Rühmann bei einem Empfang 1990 im Berliner Schloss Bellevue. © dpa
Bundespräsident Richard von Weizsäcker (l) wird am 11.10.1985 die Ehrendoktorwürde des Weizmann-Institutes in Rechovot (Israel) durch dessen Präsidenten Professor Michael Sera verliehen.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker (l) wird am 11.10.1985 die Ehrendoktorwürde des Weizmann-Institutes in Rechovot (Israel) durch dessen Präsidenten Professor Michael Sera verliehen. © dpa
Stundenlang haben die Aussiedler im Lager Friedland am 06.10.1987 in Friedland auf die Ankunft von Richard von Weizsäcker (r) gewartet.
Stundenlang haben die Aussiedler im Lager Friedland am 06.10.1987 in Friedland auf die Ankunft von Richard von Weizsäcker (r) gewartet. © dpa
Richard von Weizsäcker reitet am 10.02.1986 am Strand von Sandoway auf einem Arbeitselefanten. Rechts steht seine Ehefrau Marianne mit einem gelben Sonnenschirm in der Hand.
Richard von Weizsäcker reitet am 10.02.1986 am Strand von Sandoway auf einem Arbeitselefanten. Rechts steht seine Ehefrau Marianne mit einem gelben Sonnenschirm in der Hand. © dpa
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker absolviert am 16.07.1993 in Bonn einen 100-Meter-Lauf für das Deutsche Sportabzeichen. Er benötigte 18,6 Sekunden für die Kurzstrecke
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker absolviert am 16.07.1993 in Bonn einen 100-Meter-Lauf für das Deutsche Sportabzeichen. Er benötigte 18,6 Sekunden für die Kurzstrecke © dpa
US-Präsident Ronald Reagan (M) mit  Bundeskanzler Helmut Schmidt (r) und Richard von Weizsäcker, am 11.6.1982 im Park des Charlottenburger Schlosses.
US-Präsident Ronald Reagan (M) mit Bundeskanzler Helmut Schmidt (r) und Richard von Weizsäcker, am 11.6.1982 im Park des Charlottenburger Schlosses. © dpa
Bundespräsident Richard von Weizsäcker wird bei seinem Abschiedsbesuch als Bundespräsident in Italien am 03.031994 im Vatikan vom Oberhaupt der Katholischen Kirche, Papst Johannes Paul II., empfangen.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker wird bei seinem Abschiedsbesuch als Bundespräsident in Italien am 03.031994 im Vatikan vom Oberhaupt der Katholischen Kirche, Papst Johannes Paul II., empfangen. © dpa
Königin Elizabeth II. und Bundespräsident Richard von Weizsäcker unterhalten sich während eines Festbanketts auf Schloss Augustusburg in Brühl am Abend des 19.10.1992.
Königin Elizabeth II. und Bundespräsident Richard von Weizsäcker unterhalten sich während eines Festbanketts auf Schloss Augustusburg in Brühl am Abend des 19.10.1992. © dpa
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Debatte um den Auftritt des Bundespräsidenten

In weiten Teilen der Bevölkerung findet Weizsäckers Rede dagegen große Zustimmung. Tagelang beherrscht die Debatte um den Auftritt des Bundespräsidenten die Schlagzeilen. Zeitungen drucken Sonderseiten mit dem kompletten Wortlaut. Weizsäcker wird sogar als Kanzler gehandelt - an Stelle des blassen Amtsinhabers Helmut Kohl.

Vor allem die junge Generation, die in den 50er- und 60er-Jahren groß geworden ist, merkt auf: Da ist endlich einmal ein Politiker, der nicht drumherum redet, der unbequeme Wahrheiten ausspricht und dafür auch keine Rücksicht auf politische Zwänge nimmt. Manche in der CDU werden nach diesem 8. Mai 1985 Weizsäcker diese Rede lange nicht verzeihen.

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Aktives Erinnern

Tatsächlich aber markiert die Rede einen Wendepunkt. Sie verändert das Geschichtsbild der Deutschen in der alten Bundesrepublik. Weizsäcker führt den Deutschen vor Augen, dass das Land nur mit der bewussten Erinnerung an seine schwierige und vielschichtige jüngere Geschichte letztlich zu sich selbst finden kann. Der Weg zur so sehr ersehnten Normalität führt eben nicht über Verdrängung und Tabuisierung, sondern allein über aktives Erinnern.

Heute ist das mainstream. Doch es war Richard von Weizsäcker, der am 8. Mai 1985 den Deutschen dafür die Augen öffnete.