Berlin. . Bundespräsident Gauck sieht in dem Erinnern an die Konzentrationslager auch einen Auftrag für heute: Gegen Gewalt und Ausgrenzung.

Hochaktueller Auftrag statt Schlussstrich unter den Holocaust: Als Konsequenz aus den NS-Verbrechen hat Bundespräsident Joachim Gauck die Bürger in Deutschland zu Mitmenschlichkeit und Solidarität aufgerufen. Der Schutz von Flüchtlingen sei eine moralische Pflicht nach den „ungeheuerlichsten Menschenverbrechen“.

Der Bundespräsident hat in der Gedenkstunde im Bundestag am Dienstag zum Gedenken an die NS-Opfer schon eine Weile geredet, hat an die Millionen Toten erinnert und vor inhaltslosen Gedenkritualen gewarnt – da hält Gauck inne und wird persönlich: „So lange ich lebe, werde ich darunter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war“, sagt er. „Da ist ein Bruch eingewebt in die Textur unserer nationalen Identität, der im Bewusstsein quälend lebendig bleibt.“

Die Schuld des Verschweigens

Es ist jetzt ganz still im Plenarsaal, in dem neben den Spitzen von Staat und Religionsgemeinschaften auch Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz sitzen. Das Vernichtungslager war auf den Tag genau vor 70 Jahren, am 27. Januar 1945, von der Sowjetarmee befreit worden, 7500 Gefangene wurden gerettet – über eine Million Menschen, vor allem Juden, waren zuvor in Auschwitz von den Nazis ermordet worden. Gauck sagt mit Verweis auf diese Verbrechen: „Keine noch so überzeugende Deutung des schrecklichen Kulturbruchs wäre imstande, mein Herz und meinen Verstand zur Ruhe zu bringen.“

Doch der Präsident belässt es nicht bei einem Blick auf seine persönliche Erschütterung, dem Staatsoberhaupt geht es vor allem um zwei Botschaften an die Nation. Erstens: Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger in Deutschland, an einen Schlussstrich ist nicht zu denken. „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, erklärt Gauck. In Deutschland bleibe der Schrecken der Vergangenheit näher und die heutige Verantwortung größer und verpflichtender als anderswo.

Auschwitz - Todesfabrik der Nazis

Die Rampe von Auschwitz-Birkenau: Symbol für die Todesfabrik, die die Nationalsozialisten hier aufgebaut haben. Am 27. Januar 1945...
Die Rampe von Auschwitz-Birkenau: Symbol für die Todesfabrik, die die Nationalsozialisten hier aufgebaut haben. Am 27. Januar 1945... © Wiener Library/Handout/Archiv
... befreiten Soldaten der Roten Armee dort die letzten Gefangenen. Nur 7000 Menschen...
... befreiten Soldaten der Roten Armee dort die letzten Gefangenen. Nur 7000 Menschen... © imago stock&people
... konnten das Lager lebend verlassen.
... konnten das Lager lebend verlassen. © imago stock&people
Anfangs ein Konzentrationslager für polnische politische Gefangene, wurde Auschwitz zu einem weltweiten Symbol für den nationalsozialistischen Judenmord. Die Nationalsozialisten...
Anfangs ein Konzentrationslager für polnische politische Gefangene, wurde Auschwitz zu einem weltweiten Symbol für den nationalsozialistischen Judenmord. Die Nationalsozialisten... © dpa
... richteten das Lager auf Befehl von SS-Reichsführer Heinrich Himmler (undatiertes Foto) im Sommer 1940 am Rande des besetzten polnischen Städtchens Oswiecim auf einem ehemaligen Kasernengelände ein. Das Lagertor...
... richteten das Lager auf Befehl von SS-Reichsführer Heinrich Himmler (undatiertes Foto) im Sommer 1940 am Rande des besetzten polnischen Städtchens Oswiecim auf einem ehemaligen Kasernengelände ein. Das Lagertor... © picture-alliance/ dpa
... mit der zynischen Aufschrift
... mit der zynischen Aufschrift "Arbeit macht frei" mussten Häftlinge schmieden. Als die Nazi-Pläne zur Vernichtung der europäischen Juden Gestalt annahmen,... © Getty Images
... wurde etwa drei Kilometer von Auschwitz entfernt das Lager Birkenau gebaut.
... wurde etwa drei Kilometer von Auschwitz entfernt das Lager Birkenau gebaut. © dpa
Züge aus ganz Europa rollten zu der so genannten
Züge aus ganz Europa rollten zu der so genannten "Judenrampe",... © picture alliance / dpa
... an der die Neuankömmlinge von der SS
... an der die Neuankömmlinge von der SS "selektiert" wurden. Wer noch stark genug für Zwangsarbeit in einem der umliegenden deutschen Industriebetriebe war, hatte eine Chance, zumindest Wochen oder Monate zu überleben. © Getty Images
Das undatierte Archivbild zeigt das Konzentrationslager der IG-Farben in Auschwitz-Monowitz, in dem mindestens 30.000 Zwangsarbeiter getötet worden sind. Die IG-Farben-Gesellschaft Degesch produzierte dort das berüchtigte Gift
Das undatierte Archivbild zeigt das Konzentrationslager der IG-Farben in Auschwitz-Monowitz, in dem mindestens 30.000 Zwangsarbeiter getötet worden sind. Die IG-Farben-Gesellschaft Degesch produzierte dort das berüchtigte Gift "Zyklon-B" für die Vernichtungs-Gaskammern. © picture-alliance / dpa
Doch Tausende wurden Tag für Tag direkt von der Rampe in die Gaskammern von Birkenau - und damit in den Tod - geschickt. Die genaue Zahl der Opfer kann nur geschätzt werden. Wissenschaftler...
Doch Tausende wurden Tag für Tag direkt von der Rampe in die Gaskammern von Birkenau - und damit in den Tod - geschickt. Die genaue Zahl der Opfer kann nur geschätzt werden. Wissenschaftler... © Getty Images
... gehen von mindestens 1,3 Millionen in Auschwitz-Birkenau ermordeten Menschen aus. Mindestens 1,1 Millionen von ihnen waren Juden.
... gehen von mindestens 1,3 Millionen in Auschwitz-Birkenau ermordeten Menschen aus. Mindestens 1,1 Millionen von ihnen waren Juden. © Getty Images
Aber auch Zehntausende Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und politische Häftlinge starben in Auschwitz.
Aber auch Zehntausende Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und politische Häftlinge starben in Auschwitz. © Getty Images
Vom Ausmaß des industrialisierten Massenmords zeugt bis heute die Ausstellung dessen, was den Häftlingen in Auschwitz abgenommen wurde: Unzählige Brillen,...
Vom Ausmaß des industrialisierten Massenmords zeugt bis heute die Ausstellung dessen, was den Häftlingen in Auschwitz abgenommen wurde: Unzählige Brillen,... © Getty Images
... Schuhe,...
... Schuhe,... © Getty Images
... Bürsten,...
... Bürsten,... © Getty Images
... Taschen...
... Taschen... © Getty Images
... und Geschirr...
... und Geschirr... © Getty Images
... sowie Prothesen sind in der Gedenkstätte in Oswiecim aufbewahrt - als erschütterndes Mahnmal.
... sowie Prothesen sind in der Gedenkstätte in Oswiecim aufbewahrt - als erschütterndes Mahnmal. © Getty Images
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Erinnern ist nicht genug

Gauck beklagt dabei auch eine „zweite Schuld“, die die Deutschen durch das jahrelange Verschweigen der NS-Verbrechen in der jungen Bundesrepublik und – auf andere Weise – in der DDR auf sich geladen hätten.

Aber Erinnern ist nicht genug, das ist Gaucks zweite Botschaft: „Aus dem Erinnern ergibt sich ein Auftrag.“ Und der ist für ihn hochaktuell. Die Deutschen müssten sich jeder Art von Ausgrenzung und Gewalt entgegenstellen „und jenen, die vor Verfolgung, Krieg und Terror zu uns flüchten, eine sichere Heimstatt bieten.“

Gauck muss gar nicht die islamkritische Pegida-Bewegung, die Hetze gegen Flüchtlinge beim Namen nennen, es ist auch so klar, was er meint: Gerade in Zeiten, in denen sich Deutschland erneut auf das Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen einstellen müsse, gelte es, Mitmenschlichkeit zu schützen und zu bewahren. Gauck nimmt dabei auch muslimische Einwanderer in die Pflicht, von denen manche Antisemitismus und Hass auf Israel schüren – wo es solche Haltungen gebe, müsse man diesen Menschen die historische Wahrheit vermitteln.

Er mahnt die Deutschen aber auch zur Übernahme internationaler Verantwortung, eine Forderung, die ohnehin ein Leitmotiv seiner Präsidentschaft ist. Er stellt dem „Nie-wieder“-Versprechen nach Auschwitz schreckliche Massenmorde in jüngerer Zeit gegenüber, etwa in Ruanda, Kambodscha oder Srebrenica: „Sind wir bereit und fähig zur Prävention, damit es gar nicht erst zu Massenmorden kommt?“, fragt der Präsident.