Kiew/Mariupol. . Bei einem Raketenbeschuss der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol sind mindestens 30 Zivilisten getötet worden. Aufständische und Regierungstruppen beschuldigten sich gegenseitig.
Alle Zeichen deuten nach Osten. Am Samstag zerstörten 19 „Grad“- und „Uragan“-Raketen im Wohnviertel Wostotschny am Ostrand der ukrainischen Hafenstadt Mariupol zahlreiche Häuser, töteten mindestens 30 Menschen, verletzten rund 100.
Wie der Mariupoler Arzt Pjotr Dymtschenko unserer Zeitung sagte, gingen seit Wochen immer wieder Grad-Raketen in den Feldern vor dem Viertel Wostotschnoje nieder. „Das diente offenbar dazu, der Stadt Angst zu machen.“ Aber es sei rätselhaft, warum die gegnerische Artillerie jetzt mitten in das Wohnviertel hineingeschlagen habe. „Vielleicht hat ein betrunkener Russe den Befehl gegeben.“ Fachleute der OSZE bestätigten, die Raketen seien aus Ortschaften östlich von Mariupol abgeschossen worden, die von prorussischen Rebellen kontrolliert würden.
Auch ukrainische Politiker machten umgehend die von russischen Militärs unterstützten Verbände der Donezker und Lugansker Separatistenrepubliken verantwortlich. Präsident Pjotr Poroschenko brach am Samstag demonstrativ einen Besuch in Saudi-Arabien ab und forderte, beide „Volksrepubliken“ müssten zu terroristischen Organisationen erklärt werden. „Es ist auch an der Zeit, ihre Schutzherren beim Namen zu nennen“, spielte er auf Russland an. Er forderte eine Fortsetzung des Minsker Friedensprozesses.
Separatisten melden auf Webseiten neue Großoffensive
Die Gegenseite lieferte widersprüchliche Erklärungen ab. Der selbsternannte Rebellenpremier Alexander Sachartschenko erklärte am Samstag in Donezk, heute habe der Angriff auf Mariupol begonnen. „Das wird das beste Denkmal für unsere Gefallenen.“ Der russische Staatssender NTW zeigte Siegerbilder von angeblichen Rebellenkämpfern in Mariupol. Später verbesserte sich Sachartschenko: Niemand habe vor, die Stadt zu stürmen. „Wir sind keine wilden Tiere wie die in Kiew.“ Allerdings habe er nun den Befehl erteilt, die ukrainischen Positionen östlich von Mariupol auszuschalten.
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Tatsächlich wurde weder am Samstag noch gestern in und um Mariupol gekämpft. Aber seit Wochen scheinen die Kriegsparteien darin zu wetteifern, unschuldige Zivilisten umzubringen. Am 13. Januar traf eine Grad-Rakete einen Autobus in der Nähe eines ukrainischen Kontrollpunkts bei der Stadt Wolnowacha: 13 Tote. Vergangenen Freitag landeten Artilleriegeschosse an einer Bushaltestelle in der Rebellenhochburg Donezk: 8 Tote. Zwischenzeitlich starben Dutzende Menschen durch Geschosse, die auf beiden Seiten der Front einschlugen. „Krieg verroht Soldaten, ihre Rücksicht auf Zivilisten schwindet mit jedem Tag“, sagt der russische Schriftsteller und Tschetschenien-Veteran Arkadi Babtschenko.
Die Separatisten geben sich verbal aggressiver. Seit Tagen melden ihre Webseiten eine neue Großoffensive, Sachartschenko erklärte am Freitag, man wolle nicht mehr verhandeln und keine Gefangenen mehr machen. Dabei ist das Rekordgemetzel in Mariupol ein Waterloo für die Propaganda Russlands und der Rebellen, die ukrainische Artillerieeinschläge in Wohngebieten immer wieder als Beweis für die Völkermord-Absichten Kiews anführten. Einzelne Russen äußern jetzt Scham. „Alles Blut, was vergossen wird, klebt an Russland, an uns, an mir“, schreibt der Oppositionsblogger Ayder Muschdabajew.
Steinmeier will an Vermittlungsbemühungen festhalten
Experten spekulieren schon, warum Wladimir Putin den Konflikt verschärfen möchte. „Der Präsident hat sehr auf die Verhandlungen in Astana am 15. Januar gewartet, die auf Initiative Deutschlands platzte“, erklärt der russische Politologe Stanislaw Belkowski. „Außerdem ist Putin beleidigt, dass man ihn nicht zum 70. Jahrestag der Befreiung von Ausschwitz eingeladen hat.“
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Der Westen reagierte empört auf die Angriffe gegen Zivilisten. Die Nato forderte Russland auf, die Separatisten in der Ostukraine nicht mehr zu unterstützen. Russland müsse aufhören, die Ukraine zu destabilisieren, und stattdessen seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen, so Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier will trotz der Eskalation an den Vermittlungsbemühungen festhalten. „Wir sollten das Ende der Diplomatie nicht zu früh erklären. Wer es erklärt, nimmt in Kauf, dass die Dinge sich selbst überlassen werden“, sagte er. US-Außenminister John Kerry warf Russland vor, die Separatisten mit modernen Waffen zu versorgen.