Köln. . Die Endlos-Serie “Lindenstraße“ feiert Jubiläum. Am Sonntag, 18.50 Uhr, läuft die Folge 1500. Zum Erfolg trug bei, dass die Serie den Alltag so gut widerspiegelt, wie sonst keine. “Lindenstraßen“-Erfinder Hans W. Geißendörfer hat einige Ideen, wie die deutscheste aller Serien frisch bleiben könnte.
Hans W. Geißendörfer war erkennbar entspannt. Für das Gespräch zur 1500. Folge der „Lindenstraße“ in seinem Büro mitten im WDR-Studiokomplex in Köln-Bocklemünd nahm sich der 73-Jährige Zeit, viel Zeit. Es war ein Blick zurück und, wichtiger noch, ein Blick nach vorn. Jürgen Overkott sprach mit dem Erfinder der deutschesten aller Serien.
Sie haben mit der „Lindenstraße“ Neuland betreten. Warum wollten Sie Deutschlands erste Soap machen?
Geißendörfer: Ich hatte damals eine englische Freundin, die längst meine Frau ist, in London besucht, per Anhalter. Ich kam an, und sie rannte sofort ins Zimmer zurück und sagte: „Komm, komm, setz’ Dich hin.“ Und dann lief etwas im Fernsehen. Das war „Coronation Street“. Ich dachte mir, kann es sein, dass eine Fernsehsendung wichtiger ist, als mich anständig zu empfangen? Als die Sendung vorbei war, hat man mich aufgeklärt, warum sie so wichtig ist. Sie lief damals schon seit 20 Jahren. Meine Frau ist damit aufgewachsen. Sie hatte die Sendung erstmalig mit sechs Jahren gesehen. Und ich stellte fest, dass die Serie von allen Schichten gesehen wurde.
Eine klassenlose Sendung…
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Geißendörfer: …eine Sendung, die als Kultur gilt. Bei Sendungsjubiläen beispielsweise ist auch das Königshaus gut vertreten. Die Queen war auch schon da. Und dann kam Herr Witte vom WDR, der Erfinder des „Tatortes“. Er wollte nämlich, dass ich nach „Theodor Schindler“ einen weiteren Mehrteiler mache. Dabei hatte ich ihm im Vorfeld gesagt, dass ich mich lieber auf Kino konzentrieren wolle. Und dann habe ich ihm gesagt, wenn schon Fernsehen, dann möchte ich etwas machen, das nie aufhört. So lange es Erfolg hat, läuft es. Das war die Geburtsstunde der „Lindenstraße“.
„Mir war das Schwulen-Thema wichtig“
Gibt es eine inhaltliche Verbindung zwischen „Lindenstraße“ und „Coronation Street“?
Geißendörfer: Nein, das hat nichts miteinander zu tun. Die Serie war nicht aktuell, und sie war unpolitisch.
In der „Lindenstraße“ ist es anders herum.
Geißendörfer: Teilweise 1:1 aktuell. Bei uns gibt es Szenen, die so aussehen, als seien sie am Tag der Ausstrahlung gedreht worden.
Ist das kopiert worden?
Geißendörfer: „Coronation Street“ ist schon etwas aktueller geworden. Aber deutlicher kann man das bei einer britischen Serie namens „East Enders“ sehen.
Das Ziel der „Lindenstraße“ war immer, das Lebensgefühl des Publikums abzubilden und Zeitbezüge herzustellen.
Geißendörfer: Es gab bei mir eine gewisse Unzufriedenheit mit der Reichweite der Kinofilme. Der „Zauberberg“ erreichte mit Mühe eine siebenstellige Zuschauer-Zahl, die anderen Filme blieben sechsstellig oder noch kleiner. Ich war sehr enttäuscht, weil ich zwei, drei Jahre Lebenszeit in die Projekte gesteckt hatte, und feststellen musste, dass die Filme niemand sieht. Filme für die Blindenanstalt wollte ich nicht machen. Und das Fernsehen lieferte ein Gegenbeispiel dafür, wie man eine Breitenwirkung erzielt. Ich wollte das für die „Lindenstraße“ nutzen.
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Ich wollte Diskussionen anstoßen, zum Nachdenken anregen und eventuell sogar Lösungen anbieten. Ich war ein bisschen der APO-Linke, der nicht vorhatte, bösartig zu manipulieren, sondern zu informieren und vielleicht zu helfen. Deshalb war mir zum Beispiel das Schwulen-Thema wichtig. Wir waren die ersten, die das ernst genommen haben, wir wollten aufklären. Ich glaube, dass wir ein klein wenig zu mehr Toleranz und zu mehr Liberalisierung beigetragen haben.
„Ein richtiger Kuss ging nicht“
Was nicht ohne Konflikte abging.
Geißendörfer: Der erste Schwulen-Kuss im Fernsehen hat bei der Erzdiözese Köln zu heftigen Protesten geführt, sie verlangten ein Verbot. Opfer war der damalige Intendant Friedrich Nowottny (lacht). Wir haben gemeinsam überlegt, was wir machen können, und haben uns dann verständigt, dass sich das Paar streicheln darf oder auf die Nase küssen, aber ein richtiger Kuss ging nicht.
War es schwierig, kontroverse Themen beim WDR durchzusetzen?
Geißendörfer: Schwierig will ich nicht sagen. Es gab die eine oder andere Auseinandersetzung. Verbote gab es nie, maximal die Bitte, etwas nicht zu tun. Der WDR – von der Redaktion bis zum Fernsehdirektor – hat beraten. Wir mussten beispielsweise lernen, wie man das Thema Neonazis aufgreift, ohne dass es auf der falschen Seite Beifall findet.
"Die Angst vor Fremden ist in Deutschland groß"
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, welche Themen die Serie aufgreift?
Geißendörfer: Die Frage: Was ist mir wichtig? Jetzt, beispielsweise, ist es mir wichtig, dass wir in der Serie eine Moschee bauen. In 14, 15 deutschen Städten wird über Moschee-Bau diskutiert – oder der Bau hat bereits angefangen. Es ist ein Thema, dass nicht nur den Geißendörfer interessiert. Die Angst vor den Fremden ist in Deutschland groß. Die „Lindenstraße“ ist dazu da, dass sie da Stellung nimmt. Das Thema Ausländer war uns immer wichtig, von Anfang an – ob Griechen, Italiener, Spanier oder auch Vietnamesen. Uns ging es auch da um Toleranz.
„Wir haben den Sonntag stark gemacht“
Und um Unterhaltung.
Geißendörfer: Das ist uns das Zweitwichtigste. Wir wollten unsere Themen immer unterhaltsam verpacken, spannend und mit positiv besetzten Leitfiguren. Damit kann man schon einige Diskussionen anregen.
Wie haben Sie die Serie konzipiert?
Geißendörfer: Der allererste Plan, das war die gelbe Bibel von 1982, hat eine Sendung präsentiert, die zweimal in der Woche läuft, wie damals „Coronation Street“. Aber das hat nicht geklappt. Das war für die ARD Neuland. Und es war kühn genug, einen einzigen regelmäßigen Sendeplatz zu „bauen“. Der Donnerstag sollte es sein. Denn die Handlung spielt immer an einem Donnerstag, immer 24 Stunden. Wie im klassischen Theater gibt es die Einheit von Ort und Zeit. Es gibt keine Folge, die den Zeitrahmen sprengt. Aber bei der Programmierung des Donnerstags haben sich ARD und ZDF damals nicht einigen können. Und dann hieß es: Donnerstag geht nicht, aber wir können Ihnen den Sonntag anbieten.
Ein toller Sendeplatz…
Geißendörfer: Nein, überhaupt nicht, damals jedenfalls nicht. Wir haben zwar gesagt, wir machen’s, aber für die Bücher, für das Konzept - die Handlung der Folge spielt am Sendetag- erschien das vernichtend. Der Sonntag engt total ein. Es wird nicht gearbeitet, die Geschäfte haben nicht auf. Deshalb habe ich mich entschlossen, am Sonntag Geschichten zu zeigen, die am Donnerstag spielen.
Wie sehen Sie den Sendeplatz Sonntag heute?
Geißendörfer: Wir haben den Platz stark gemacht, und er wird stark bleiben.
„Am Anfang habe ich wie blöd gearbeitet“
Ich sehe im Regal eine Menge Auszeichnungen. Wann wussten Sie, dass die Serie richtig funktioniert?
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Geißendörfer: (denkt nach) Ich kann das gar nicht so beantworten. Am Anfang habe ich wie blöd gearbeitet, habe geschrieben, Regie geführt und mich um die Produktion gekümmert. Es gab Probleme, die kann man sich heute gar nicht vorstellen. Am Anfang haben die Lichtaggregate so gebrummt, dass wir keinen O-Ton machen konnten. Wir mussten improvisieren und waren am Ende heilfroh, wenn die Sendung fertig war. Die Quote war mir am Anfang überhaupt nicht wichtig. Es war nur wichtig, dass die Serie gut und sendefähig wurde.
Aber die Verträge waren doch damals schon befristet.
Geißendörfer: Das haben wir gar nicht mitgekriegt. Wir fühlten uns wie in einem Hamsterrad und waren ganz überrascht, als uns Herr Witte eine Vertragsverlängerung anbot.
„Wir machen immer wieder bewusst Kontroverses“
Die „Bild“-Zeitung hat Ihnen das Maximum an Aufmerksamkeit beschert, indem sie auf die „Lindenstraße“ eindrosch.
Geißendörfer: Ja, und irgendwann haben sie gemerkt, dass sie mit ihrer Kritik gegen ihre Leser schreiben und schwenkten um. Und plötzlich wurden wir offensichtlich akzeptiert. Es gibt positive Berichterstattung. Und dann haben wir gemerkt: Wir haben ja pro Folge 14 Millionen Zuschauer. Und dann haben wir irgendwann dem WDR-Fernsehdirektor gesagt, als wir nur noch zwölf Millionen hatten: „Wenn wir mal unter zehn Millionen kommen, hören wir auf.“
Von der Vorstellung haben Sie sich schnell frei gemacht.
Geißendörfer: Es war die Zeit, als immer mehr Privatsender kamen. Und wir wussten natürlich, die Torte wird in immer kleinere Stücke aufgeteilt.
Trauern Sie der Zeit hinterher, als es nur drei Programme gab?
Inhaltlich hat sich für uns nichts verändert. Im Gegenteil: Wir nehmen uns ernster als am Anfang. Wir machen immer wieder bewusst Kontroverses. Das sehen Sie ja jetzt am Beispiel der Moschee. Das ist „Lindenstraße“.