Washington. . Nach einem Schwächeanfall fällt ein Blinder mit seinem Hund ins Gleisbett der New Yorker U-Bahn, werden von einem Zug überrollt. Beide überleben. Es ist „das Wunder von der 125. Straße“, das Amerika zur Weihnachtszeit bewegt.
Ein Blinder, der lebensbedrohlich in Not gerät. Ein Blindenhund, der seinem Herrchen in größter Gefahr beisteht. Und am Ende eine Welle der Hilfsbereitschaft. Die Geschichte von Cecil Williams und seinem schwarzen Labrador Orlando hat kurz vor Weihnachten über die Grenzen New Yorks hinaus die Herzen der Amerikaner entflammt.
Es geschieht, protokolliert von Dutzenden Medien, am Dienstagmorgen gegen 9.30 Uhr auf der U-Bahn-Station an der 125. Straße in Harlem. Cecil Williams ist auf dem Weg zum Doktor. Plötzlich wird dem nach einer Hirnhautentzündung seit 1995 erblindeten Handwerker an der Bahnsteigkante schwindelig. Orlando, sein Blindenhund, erkennt die Gefahr, zurrt an der Leine, um die Katastrophe zu verhindern. Die Katastrophe kommt. Williams strauchelt, fällt auf die Gleise. Orlando hinterher, bellend und an seinem Herrchen zerrend. Passanten rufen dem Verunglückten zu: „Steh‘ auf, steh‘ auf, gleich kommt der nächste Zug.“
Nur leichte Blessuren
Williams kann sich nicht rühren. Menschliche Hilfe ist nirgends bei der Hand. Orlando bleibt bei ihm, leckt dem 60-Jährigen das Gesicht. Und ignoriert die natürlichen Fluchtinstinkte, als Sekunden später tatsächlich ein Zug einfährt. Auf Zuruf von Bahn-Personal presst sich Williams ins Gleisbett, der Hund auch. Irgendwie reicht der Abstand.
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Beide haben großes Glück, als sie von zwei Waggons überrollt werden. Feuerwehrmänner bergen Williams und den Labrador mit leichten Blessuren. Im Krankenhaus gibt Williams seither ein Interview nach dem nächsten. Und sagt Sätze, die nicht nur vor Weihnachten Amerikanern unter die Haut gehen: „Ich bin überzeugt, ich sollte nicht sterben. Gott hat noch etwas vor mit mir. Und Orlando war sein Werkzeug.“
An dieser Stelle wäre eine Hollywood-Version der Geschichte, unterlegt mit tränentreibenden Geigentönen, ausgeklungen und im Kino hätten die Taschentücher geraschelt. Im wahren Leben wird es noch rührseliger. Williams erzählte Reportern, dass Orlando, weil elf (also 77...), nach den Vorschriften bald aufs Blindenhund-Altenteil müsse. Ihm fehlten die Mittel, dem Gefährten das Futter für den Lebensabend zu bezahlen.
Spendenaktion fürs Hundefutter
NBC, der TV-Sender, übertrug den Satz, der Marc Jacobson in Washington und Grant Krish in Indiana elektrisierte. Unabhängig voneinander starten sie Spendenaufrufe. Zwei Internet-Plattformen bekamen die Sammelaufträge. Fast 80 000 Dollar kamen seit Mittwoch zusammen. Mehr als genug für Dutzende Orlandos. Zumal Hunderte Amerikaner sich direkt mit einer Blindenhund-Organisation in Verbindung setzten – und fünf bis 50 Dollar spendeten.
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Williams‘ Rettung hat ein für Europäer merkwürdiges Ritual aus den Schlagzeilen verdrängt. Alle Jahre wieder sagt irgendwer Mitte Dezember etwas Provokantes über Weihnachten. Worauf überchristliche Gruppen und Politiker den Untergang des Abendlandes beschwören und sich im „Krieg gegen Weihnachten“ wähnen. Diesmal war es etwas anders. Der einflussreiche Fernsehsender Fox News ließ verkünden, dass der „Weihnachtsmann ein Weißer ist“ – basta. Das schwarze Amerika hatte nie das Gegenteil behauptet, war aber doch pikiert. „Santa“ sei für alle da. Der in den Medien tobende Schaukampf hätte bis zur Bescherung angehalten. Wäre nicht das geschehen, was die New Yorker Boulevard-Blätter „Das Wunder von der 125. Straße“ nennen.
Der Retter wird den Lebensabend nun mit Cecil Williams verbringen. Der Mann war den Tränen nah, als er von der Sympathie-Welle erfuhr. „Der Geist von Weihnachten existiert wirklich“, sagte er. Cecil (schwarz) und Orlando (schwarzes Fell) haben die Debatte um den weißen Weihnachtsmann fast vergessen gemacht. Halleluja.