Oslo. Jorid Nordmelan war im norwegischen Ferienlager auf Utøya, als Anders Breivik dort ein Massaker veranstaltete und wahllos Schüler erschoss. Die heute 22-Jährige saß unter ihrem Bett – und sah alles. Nach zwei Jahren, so glaubt sie, hat sie das Trauma verarbeitet.
Jorid Nordmelan glaubt, dass sie den ungeheuerlichen Schrecken verarbeitet hat. „Mir geht es eigentlich wieder richtig großartig. Manchmal zerreißen mich die Erinnerungen noch. Aber das passiert immer seltener“, erzählt sie. Das Massaker von Utøya, das 69 Menschen das Leben kostete, sie hat es erlebt – und überlebt.
Heute vor genau zwei Jahren, da lag sie unter einem Bett in einem Schlafsaal versteckt. Zwei Stunden lang. Der Attentäter Anders Behring Breivik wollte rein, versuchte, Tränengas durch die Glasfenster zu schießen, um Jorid und ihre Freunde nach draußen zu treiben, in seine Schusslinie. So hatte er es erfolgreich in den anderen Gebäuden gemacht. „Wir hatten die Fenster mit Matratzen verbarrikadiert. Sonst hätte ich vielleicht nicht überlebt“, erinnert sie sich. Als das Glas der Eingangstür nach zwei Stunden zersplitterte, glaubte Jorid trotzdem, ihr Leben sei vorbei.
Breivik wirkte zufrieden und glücklich
Doch es waren echte Polizisten, die in den Schlafsaal eindrangen, nicht der in Uniform verkleidete Massenmörder Breivik. „Bleibt noch hier drin, es gibt vielleicht noch eine Bombe auf der Insel, die gleich hochgeht. Wir holen euch nachher raus“, riefen die Beamten ihnen zu.
Eine Stunde später ging Jorid mit den anderen aus dem Schlafsaal runter zur Fähre, um an Land gebracht zu werden. Vorbei an Leichen und Verletzten, um die sich Sanitäter kümmerten. „Da hab’ ich ihn gesehen“, sagt sie. „Er stand vor dem Hauptgebäude. Mit zwei Polizisten. Er hat gelächelt in seiner Uniform, hüpfte, wippte auf den Füßen auf derselben Stelle hoch und runter. In dem Moment haben wir Augenkontakt bekommen. Und Breivik hat mich einfach angelächelt. Ich hab’ zwischen Leichen und Verletzten gestanden, die stark geblutet haben, und der Mann wirkte so zufrieden, so glücklich, dass ich spontan gedacht habe, das kann nicht der Killer sein, der ist noch anderswo“, erinnert sie sich.
Die Rückkehr zum Ort der Katastrophe
Noch lange litt Jorid Nordmelan unter den traumatischen Erlebnissen dieses Sommers. „Ich hab’ ein paar Wochen später im Wohnzimmer meiner Eltern gesessen. Im Fernseher lief ein Film, wo Glas geklirrt hat. Ich bin einfach auf den Boden gefallen, hab’ mich zusammengekauert und bin liegen geblieben. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich war gelähmt vor Angst. Mein Freund Lasse hat sich zu mir auf den Boden gelegt und so lange umarmt, bis ich wieder aufstehen konnte“, erzählt sie. Jorid nahm an den Trauma-Bewältigungsprogrammen für die Überlebenden des Massakers teil. Bleich sah sie und noch mehr ihr Vater aus, als die beiden nur vier Wochen nach dem Anschlag mit Angehörigen und Überlebenden zurück auf die Insel kamen. Die Rückkehr zum Ort der Katastrophe sollte eigentlich befreien. „Das war hart das alles so kurz später wieder zu sehen. Aber es war vielleicht gut“, erinnert sie sich.
Doch schnell sah sie ein, dass die Betreuung nichts für sie war. Zu einem Psychologen ist Jorid nur ein paar Stunden gegangen, und Psychopharmaka hat sie nie genommen, beteuert sie: „Ich wollte mich da nicht hineinsteigern.“ Es habe ihr geholfen, „Menschen um mich herum zu haben, die mich kennen, mit denen es okay ist, zu weinen. Ich habe einen tollen Freund, eine tolle Familie und tolle Freunde. Die haben mitgeholfen, ein normales Leben weiterzuführen“.
Das Grauen von Utöya
Kurz nach dem Anschlag stürzte sich Jorid Nordmelan wieder in die Arbeit, half ihrer Partei im Kommunalwahlkampf in Oslo, dann ging ihr Studium der internationalen Beziehungen weiter. Bei den Parlamentswahlen im Herbst wird Jorid mit ihren heute 22 Jahren sogar erstmals für einen Parlamentssitz der Sozialdemokraten kandidieren. „Ich bin auf Platz drei in meinem Wahlkreis, die Chance ist nicht groß, aber sie besteht“, sagt sie mit ihrer ruhigen, zuversichtlichen Stimme.
„Das war ein aufgeblasenes, armes Würstchen“
Die Insel Utøya, traditioneller Ort der Sommerlager der sozialdemokratischen Jugend, sei nicht mehr das, was sie war und werde es auch nie wieder sein. Utøya sei ihnen für immer genommen worden. Der Gerichtsprozess vor einem Jahr gegen Breivik habe ihr etwas von dem ursprünglichen Trauma genommen. „Ich war im Gerichtssaal, und er ist reingekommen. Das war ein aufgeblasenes, armes Würstchen. Nicht das gewaltige Monster, das wir in Erinnerung hatten. Es tat gut, ihn so zu sehen“, erzählt sie.
Für den zweiten Jahrestag hat sich Jorid noch nichts Genaues vorgenommen. „Vielleicht gehen mein Freund und ich auf ein kleines Konzert, das in Gedenken an eine unserer toten Freundinnen abgehalten wird. Aber vielleicht mach ich auch einfach nichts.“