Utoya. Die Überlebenden des Massakers von Utoya kehrten am Wochenende zurück an den Ort, wo ihre Freunde starben. Das Land steht noch immer unter Schock.Die Überlebenden des Massakers von Utoya kehrten am Wochenende zurück an den Ort, wo ihre Freunde starben. Vier Wochen ist das grausame Massaker des mutmaßlichen Täters Breivik nun her. Das Land steht noch immer unter Schock.
Jorid weiß, dass sie gleich sterben wird. Der Polizist hat faustgroße Löcher in ihre Freunde geschossen. Wie ein Roboter. Jetzt will er rein. Schießt in die verriegelte Tür zum Schlafsaal. Schießt die Tür in Stücke. Drinnen liegt Jorid mit ihren gerade 20 Jahren, zusammengezogen wie ein Embryo unter dem Bett. In Horrorfilmen ist das Versteck unter dem Bett immer das schlechteste, vor allem in einem Schlafsaal. Aber der Mann guckt nicht unter Jorids Bett.
Nur vier Wochen später ist Jorid Nordmelan wieder auf der Insel Utoya, wo 69 Kollegen ihrer sozialdemokratischen Nachwuchsorganisation starben. Polizisten zeigen ihr die Orte, wo ihre besten Freunde gestorben sind. „Ich habe es einfach nicht geschafft, auf alle Beerdigungen zu gehen. Deshalb bin ich eigentlich vor allem gekommen. Um tschüss zu sagen“, sagt die Studentin, als sie gerade mit der Fähre, die auch Anders Behring Breivik auf die Insel brachte, zurück ans Festland gekommen ist.
Der Einladungsbrief lag lange auf dem Tisch zu Hause. „Ich wollte nicht wieder zurück. Ich war mir so sicher dort zu sterben. Aber vor einer Woche habe ich mich umentschieden“, sagt sie auf einer Klippe am See. Sie ist eigentlich viel zu ruhig, blickt fast entspannt auf die Insel, als ob sie das Monster in ihren Erinnerungen durch den Besuch erlegt hat. Ihren Vater Narve registriert sie gar nicht richtig. „Wir haben ihr so gut es geht Mut gemacht. Sie hatte Angst, ein Psychologe redete mir ihr und sagte, dass es helfen könne, mit Freunden zurückzukehren an den Mordplatz, auch wenn das im ersten Moment seltsam klingen mag“, sagt der Vater . Jurid ist froh dass sie dort war. „Wir haben gemeinsam geweint, als wir alles noch einmal gesehen haben, auch die Stellen an denen gute Freunde erschossen wurden.“
Zurück ins Paradies
Im kommenden Sommer will sie mithelfen, die Insel wieder zum Leben zu erwecken, beim nächsten Sommercamp. „Das war unser Paradies und das holen wir uns zurück. Mit viel Liebe und ohne Hass“, sagt sie, fast so wie es im Parteiprogramm stehen könnte. Die Jungsozialdemokratin habe sich auch gleich wieder in Arbeit gestürzt. Als Wahlkampfsekretärin für ihre Partei. Zwei Wochen nach ihrem Beinahetod. Warum? „Weil ich das den Toten schuldig bin“, sagt sie pflichtbewusst.
Im September finden Regionalwahlen statt, bei denen den vor dem Massaker in Umfragen weit abgeschlagenen Sozialdemokraten das beste Wahlergebnis seit Jahrzehnten vorausgesagt wird. Viele Sympathiestimmen sind dabei, denn die Arbeiterpartei, die laut Täter Breivik „zu viele Moslems importiert“ war das Hauptziel des Anschlages.
Das Grauen von Utoeya
Vorbildliche Versorgung
Insgesamt sind am Wochenende rund 1500 Überlebende mit ihren Angehörigen auf die Insel gekommen. Schon in den Wochen zuvor gab es unzählige Staatsakte, Trauerveranstaltungen, fast jede einzelne der 69 Beerdigungen wurden über die Medien im ganzen Land zelebriert. Wohl noch nie in der Geschichte wurde eine Tragödie so vorbildlich aufgearbeitet. Alle Trauernden, Überlebende, Polizisten, Hilfsarbeiter, selbst Psychologen hatten stets Zugang einem Psychologen. „Wir hatten in Norwegen viele Opfer nach dem Tsunami 2004 und haben dabei viel gelernt“, sagt Grete Dyb, Psychiaterin am Osloer Krisenzentrum.
Es ist erstaunlich, welches Pensum Überlebende derzeit erfüllen: Interviews, Trauerveranstaltungen, Wahlkampf, und, und, und. Ob das nicht zu viel des Guten ist? Die Psychiaterin nickt vorsichtig. „Wir geben allen den nötigen Raum, um selbst zu entscheiden. Denen die nicht nach Utoya gekommen sind, haben wir versichert, in einigen Monaten nochmal eine Reise auf die Insel zu organisieren. Und später dann wieder eine.“