London. Die Hauptstädter geben sich demonstrativ gelassen, die Politiker entschlossen – und doch lässt sich nicht verbergen, wie tief der brutale Macheten-Mord Großbritannien erschüttert. Der hingerichtete Soldat ist offenbar das erste Todesopfer einer neuen Terrortaktik: Unauffällige Einzeltäter attackieren Passanten aus heiterem Himmel mit technisch simplen Waffen.

Londoner zucken bei Mordgeschichten aus der Metropole kaum noch mit der Wimper, doch der Horror von Woolwich lässt auch sie nicht kalt. Fernsehsender kippen ihr reguläres Programm, handeln immer neue grausige Details: Wie das Opfer, ein Soldat in Alltagsklamotten, nur wenige Meter vor Londons größter Kaserne von einem blauen Opel Tigra umgemäht wird. Passanten glauben an einen Verkehrsunfall, beobachten, wie zwei Männer über dem Soldaten knien, um ihn wiederzubeleben. Ein Irrtum, wie sich herausstellt: Die Täter geben dem jungen Soldaten keine Herzmassage, sondern hacken mit Fleischermessern auf ihn ein, versuchen, seinen Kopf abzutrennen.

„Heute erklären wir London den Krieg“

Der Tag hat auch seine unerschrockenen Helden. Graham Wilders etwa, der als Erster versteht, was da vor ihm, mitten an der Hauptverkehrsader im Londoner Süden am hellen Nachmittag, passiert. „Ich habe sofort vorbeilaufende Schulkinder gewarnt“, sagt er, „die Lehrer haben daraufhin die Tore zum Schulgebäude geschlossen.“

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Von Walter Bau

Bis die Polizei kommt, vergehen quälende Minuten. Zeit, die beide Täter nutzen, um sich für Handy-Kameras von Passanten wie auf einer Bühne zu präsentieren. Sie wollen nicht fliehen und sie wollen sich nicht verstecken.

„Heute erklären wir London den Krieg“, sagt Michael A. , ein 28-jähriger Brite mit nigerianischen Wurzeln, „ihr werdet niemals sicher sein. Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Währenddessen kniet sich eine Londonerin neben den sterbenden Soldaten und betet. Eine andere Passantin bringt den Mut auf, die Täter zu konfrontieren: „In Eurem Krieg steht ihr allein gegen viele.“ Mit Schüssen streckt die Polizei die Täter schließlich nieder.

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Zurzeit werden sie in getrennten Krankenhäusern von der Kripo bewacht. Premier David Cameron verurteilte die Tat am Donnerstag als „Angriff auf Großbritannien und Verrat am Islam.“ Bürgermeister Boris Johnson brandmarkte die Täter als „Verrückte mit Wahnvorstellungen.“ Hinter der Fassade starker Worte herrscht jedoch Verunsicherung, wenn nicht sogar Panik. Eine am frühen Morgen vom Verteidigungsministerium ausgegebene Anordnung, dass Soldaten sich zum eigenen Schutz vorerst nicht mit Uniform in die Öffentlichkeit begeben sollen, wird nur wenig später vom Premierminister revidiert. „Alle Briten sollen wie gewohnt ihrem normalen Leben nachgehen“, heißt es aus der Downing Street, „dies ist die einzige Methode, sich gegen Terrorismus zu wehren.“

Blitz-Terrorismus: Täter gehen offenbar spontan auf Opfer los

Dabei ist schon am Mittag klar, dass sich niemand gegen diese Art von Blitz-Terrorismus zur Wehr setzen kann: Obwohl die beiden Männer der Polizei bekannt waren, wurde ihr Gefährdungspotenzial offenbar falsch eingeschätzt. Der Begriff „Nike-Täter“ macht die Runde: Analog zum Werbeslogan der Sportartikel-Firma „Just do it“ gehen sie aus eigenem Antrieb scheinbar spontan auf Opfer los. Technisch simple Waffen – in diesem Fall ein Fleischermesser – bedeuten, dass sie anders als Bombenbauer unbemerkt durch das feine Frühwarnsystem der Terrorfahnder gleiten.

Wie schwierig es ist, privat und ohne Hilfe von Hasspredigern radikalisierte Täter rechtzeitig zu erkennen, zeigt das properer Eigenheim in Lincolnshire, das Ermittler zurzeit durchsuchen. In dem Idyll mit Doppelgarage, Sprossenfenstern und Erkerzimmer wohnt der Vater von Michael A., nach Medienberichten ein ausgebildeter Krankenpfleger und Manager im staatlichen Gesundheitswesen NHS. Er soll schon vor Jahren mit dem problematischen Teenager aus der Stadt aufs Land gezogen sein, um ihn von radikalen Gruppierungen fernzuhalten. Nicht einmal er hat die Bluttat seines Sohnes kommen sehen.

Unterdessen fürchtet die Polizei Vergeltungsanschläge mehr als mögliche Nachahmer. Schon wenige Stunden nach dem Soldatentod versammelten sich Mittwochabend über hundert Anhänger der militanten „English Defence League“ nahe des Tatortes in Woolwich. Die Vermummten skandierten in der Nacht lautstark nationalistische und islamfeindliche Parolen. Am frühen Morgen übernahmen schließlich wieder ganz gewöhnliche Großstädter das Viertel: Hunderte Londoner legten am Tatort Blumen und Abschiedsbriefe für den unbekannten Soldaten von Woolwich nieder.