London. In London ist am Donnerstag Europas höchstes Haus eingeweiht worden. Extrem-Kletterer Bradley Garrett war schon längst oben – und schwärmt im Interview vom Höhenrausch.

Hoch, höher, „The Shard“. Mit 311 Metern bis zur Spitze ist am Donnerstag der größte Wolkenkratzer Westeuropas in London eingeweiht worden. Besucher haben zu „The Shard“ (Glasscherbe), wie der Bau wegen seiner Form genannt wird, erst ab 2013 Zutritt. Kletterer Bradley Garrett hat den Mount Everest der Architektur schon heimlich bestiegen. Er schwärmt vom Höhenrausch.

Neben dem Kranführer sind Sie einer der ganz wenigen, die den neuen Wolkenkratzer von oben kennen. Erzählen Sie uns, wie der Ausblick ist.

Bradley Garrett: Absolut überwältigend! Es ist so hoch, dass man die Details am Boden gar nicht mehr erkennt. Einzelne Busse oder Taxis sind zu Lichtstreifen verschwommen. Die Stadt unten sah aus wie ein gigantischer Stromschaltkreis. Es war sehr, sehr still. Vögel gibt’s so weit oben auch nicht. Man muss sich den Ausblick wie beim Landeanflug vorstellen – nur kälter ...

Sie sind in einer klaren Dezembernacht heimlich mit Freunden auf die Glasscherbe geklettert, die da noch eine Baustelle war. Warum?

Garrett: Wenn man tagtäglich auf einen Berg blickt, dann hat man doch irgendwann das Verlangen, auch hinaufzusteigen. Mit Betonbergen in der Stadt ist es genauso: Alle wollen wissen, wie der Blick von oben ist, wenn sie unten stehen. Aber sie dürfen nicht hinauf! Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, schon während der Bauphase offiziell Zugang zur „Shard“ zu gewähren.

Wie sind Sie in die angeblich bestbewachte Baustelle der Stadt hineingekommen?

Garrett: Wir haben uns von einem Gerüst auf einen Holzsteg geschwungen, sind hinter dem einzigen Sicherheitsbeamten vorbeigelaufen und haben dann die Treppe bis ganz nach oben genommen. Dort war alles offen. In der Kabine des Kranführers steckte sogar noch eine Ausgabe der „Sun“ vom Morgen.

Gab es Ärger?

Garrett: Nein, es war ja kein Einbruch. Wir machen auch nichts kaputt und bringen uns nicht in Gefahr. Eine Baustelle wie diese ist wegen des Arbeitschutzes sehr, sehr sicher. Das Management verkündete später lediglich, dass es 13 weitere Sicherheitskräfte einstellen würde.

Hatten Sie keine Höhenangst?

Garrett: Adrenalin ja, Angst nein. Beim Klettern in der freien Natur ist mir oft mulmiger. Und auf der „Glasscherbe“ haben andere viel verrücktere Sachen angestellt – Base-Jumping mit Fallschirmen zum Beispiel. Eins ist sicher: Der neue Wolkenkratzer hatte in seiner zwölfjährigen Bauphase eine wilde Zeit!

Sie klettern überall auf der Welt heimlich auf Gebäude, haben zu dem Thema sogar promoviert. Was treibt Sie an?

Garrett: Ich bin Geograf und sehe die Stadt wie ein System aus Schichten: Weil die Metropole ständig wächst und sich verändert, werden ältere Dinge vergraben – und vergessen. Denken Sie an die vielen Geister-U-Bahnstationen in London, die nicht mehr benutzt werden, aber noch immer hinter dicken Eisentoren existieren. Wenn man die vertikalen Schichten ausgräbt oder erklimmt, fotografiert und so mit den Menschen teilt, die dort wohnen, dann gibt man ihnen ein besseres Bewusstsein für ihre Lebenswelt zurück.