Warschau. . Die deutschen Fans in Warschau verarbeiten das EM-Aus. Manche nehmen es mit Humor, andere leiden gemeinsam mit den früh ausgeschiedenen Polen. Unser Reporter Matthias Maruhn berichtet, was er nach der Niederlage gegen Italien erlebte.

Das Ergebnis muss ich erst mal verarbeiten. Allein bin ich damit nicht. Wir trotten zu 60 000 über die Weichsel-Brücke zurück in die Innenstadt. Hier und da singt ein Italiener frohe Lieder, die deutschen Fans gehen je nach Mentalität mit trotzig erhobenem oder hängendem Kopf. So gehen Verlierer, Verlierer gehen so... Ein Witzbold wagt das populäre Lied. Ein Griesgram droht ihm flapsig Prügel an. Andere diskutieren. „Wieso hat er nur Podolski gebracht“ oder „Ich hab’s geahnt. Ich hab’s geahnt.“ Therapien für die wunde Seele werden ausgetüftelt: „Ein Jahr keine Pizza, keine Spaghetti, kein Tiramisu...“

Hinter der Brücke teilt sich der Menschenstrom und ergießt sich in Hunderte Kneipen und Restaurants. Trauertrinken. Ich biege links ab Richtung Hostel Emma, zurück zu meiner 130-Euro-pro-Nacht-Zelle mit dem Schildchen am Kühlschrank: „Vergesst nicht zu spülen.“ Ich hoffe, dass ich noch auf Benjamin, Peter und Jochen treffe, Mittzwanziger, Rheinländer und Hardcore-Fans von Borussia Mönchengladbach. Seit zwei Wochen reisen sie der Nationalmannschaft hinterher. Bis Donnerstag waren sie ein Quartett, Miro musste abreisen, er hatte seiner Freundin zum Geburtstag Karten für ein Musikfestival geschenkt und dabei den Halbfinal-Termin vergessen. Minne geht vor Fußball, auch wenn seine Kumpels jetzt mächtig ablästern. Vorher. Nach der Pleite sind sie fast ein wenig neidisch.

Schlafen gegen die Trauer

Die Vier sind wirklich Fußballverrückte. Als ich Miro zum ersten Mal in der Küche des Hostels traf, stellte er sich gleich entsprechend vor: Miro wie Klose. Seine erste Gegenfrage war dann auch typisch: Wer ist dein Lieblingsspieler in der deutschen Nationalmannschaft? „Hummels“ habe ich mal diplomatisch gesagt und lag gut damit. „Meiner auch. Und Badstuber. Ich mag die Innenverteidiger.“ Und ich mag leicht meschugge Fußballgespräche. Aber heute Nacht zeigen die Jungs mir die rote Karte. Sie sind so tief, tief traurig und gefrustet, dass sie nicht reden, nicht trinken, sondern ihr Seelenheil im Tiefschlaf suchen wollen.

Aber unten in unserer Straße brennt in einigen Bars noch Licht. Die Stimmung dort ist vielfach so trüb wie die Weichsel, nicht nur bei den Deutschen. Denn den polnischen Fans leiden noch immer unter dem Vorrundenaus. Im Fernsehen läuft ein Werbespot mit Lewandowski, doch keiner schaut hin. Der junge Barkeeper seufzt: „Die Polen können einfach keinen Fußball spielen...“ Ich will ihn trösten und erinnere mich. „Nein, nein, 1974 war Polen Weltklasse. Lato Torschützenkönig. Dritter Platz, knapp verloren im Halbfinale, die Regenschlacht in Frankfurt...“

Der Junge holt mir ein Bier, stellt es vor mich hin und sagt: „Ja, davon hat mir mein Großvater oft erzählt.“ Ich nehme einen tiefen Schluck und den Gedanken auf: Werden über das Spiel gegen Italien jetzt auch einstmals die Großväter erzählen? Wohl nur italienische. Aber wer weiß das schon. Der Fußball ist ein schrulliger Geschichtenschreiber. Deshalb auch wird er so geliebt.