Emden/Osnabrück. . Nach dem Mord an dem elfjährigen Mädchen Lena in Emden steht die dortige Polizei in der Kritik. Der 18-jährige Täter soll sich vor fünf Monaten auf der Wache wegen Pädophilie selbst angezeigt haben. Ein Durchsuchungsbeschluss bei ihm sei aber nicht weiterverfolgt worden.
Falscher Verdächtiger, nicht vollstreckter Durchsuchungsbeschluss: Die Liste der Ermittlungspannen im Mordfall Lena wird länger. Die Polizei räumte am Dienstag schwere Fehler im Vorfeld der Tat ein. Der spätere mutmaßliche Täter zeigte sich im Herbst wegen Kinderpornographie selbst an, doch die Beamten ermittelten offensichtlich nicht konsequent genug gegen ihn. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) kündigte eine umfassende Untersuchung der Vorwürfe gegen die Polizei an.
Der 18-jährige Tatverdächtige sei bereits im November auf dem Polizeirevier Emden erschienen, um sich wegen seiner pädophilen Neigungen selbst anzuzeigen, sagte der Vizepräsident der Polizeidirektion Osnabrück, Friedo de Vries, am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Osnabrück. Dabei habe der spätere mutmaßliche Täter angegeben, Fotos von einem unbekleideten Kind gemacht zu haben. Weil der Fall damals nicht weiterverfolgt worden ist, nahm die Polizeidirektion nun interne Ermittlungen wegen polizeilichen Fehlverhaltens auf.
Durchsuchungsbeschluss wurde seit Dezember nicht umgesetzt
Die Polizei Emden gab den Fall den Angaben zufolge an die damals zuständige Polizeiinspektion Aurich/Wittmund weiter, die beim Amtsgericht Hannover im Dezember 2011 einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des 18-Jährigen erwirkte. Dieser sei von der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund aber bis zur Festnahme des jungen Mannes am Sonntag nicht umgesetzt worden.
Der Verdächtige wollte mit der Selbstanzeige nach eigenen Angaben "einen Schlusspunkt" setzen, fügte de Vries hinzu. Die Verzögerungen bei den Ermittlungen seien "nicht nachvollziehbar".
Innenminister betroffen über Versäumnisse
Schünemann forderte eine umfassende Untersuchung der Versäumnisse. "Es muss lückenlos aufgeklärt werden, warum es offensichtlich bei der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund nach der Einleitung eines Verfahrens zu einer schleppenden Sachbearbeitung durch einzelne Ermittlungsbeamte gekommen ist", sagte Schünemann. "Nachdem es der Mordkommission in Emden in kurzer Zeit gelungen ist, den mutmaßlichen Täter zu ermitteln, macht es mich jetzt umso betroffener, dass unmittelbar nach diesem Fahndungserfolg im Hinblick auf weitere Tatvorwürfe Versäumnisse festgestellt wurden".
Die Staatsanwaltschaft Hannover beteuerte derweil rasches Handeln. Die Strafverfolger hätten "schnell und zügig alles Nötige veranlasst", sagte Staatsanwältin Kathrin Söfker der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Mittwochausgabe). Ihre Behörde erhielt demnach am 9. Dezember 2011 Akten aus Aurich. Daraufhin sei am 14. Dezember ein Durchsuchungsbeschluss beantragt und sechs Tage später erlassen worden. Am 21. Dezember sei dieser nach Aurich gesendet worden und soll dort am 30. Dezember eingegangen sein. Inwieweit ein Fehlverhalten der örtlichen Polizei vorliege, sei nun Gegenstand der Untersuchung und müsse abgewartet werden, sagte Söfker weiter.
Kriminologe Egg macht Polizei im Fall Lena Vorwürfe
Der Direktor der Kriminologischen Zentralstelle von Bund und Ländern, Rudolf Egg, macht der Polizei schwere Vorwürfe. Wenn schon jemand zur Polizei komme und sage, er habe eine pädophile Neigung und wolle einen Schlusspunkt setzen, dann sei das auch eine Art Hilferuf, sagte Egg am Dienstag in den ARD-"Tagesthemen". "Im Interesse des Opferschutzes kann man so jemanden nicht einfach gehen lassen".
Er betonte, dass ein erlassener Durchsuchungsbeschluss nicht vollstreckt wird, sei ihm in dieser Form noch nicht begegnet. "An sich kann das schon mal ein paar Tage dauern, in der Regel würde man das aber unverzüglich machen", sagte Egg.
Pfeiffer: Polizei reagierte erstaunlich passiv
Der Kriminologe Christian Pfeiffer gab zu Bedenken, dass eine Hausdurchsuchung beim mutmaßlichen Mörder den Tod der elfjährigen Lena nicht zwangsläufig verhindert hätte. "Man kann nicht sicher behaupten, danach wäre er sowieso in U-Haft gekommen und Lena würde leben", sagte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen am Dienstagabend in der TV-Sendung "NDR aktuell".
Pfeiffer betonte jedoch auch, die Reaktion der Polizei auf die Selbstanzeige des 18-Jährigen sei erstaunlich passiv gewesen. "Jeder weiß, gerade in diesen jungen Jahren ist man noch sehr therapiefähig". Wenn die Polizei konkret beispielsweise nach dem Therapeuten des Jungen gefragt hätte, "dann hätte etwas in Gang kommen können, das die ganze Geschichte gedreht hätte", sagte Pfeiffer.
Taucher suchen nach Tatwaffe im Fall Lena
Die Ermittlungen im Fall Lena konzentrieren sich unterdessen auf die Suche nach der Tatwaffe und weiteren Gegenständen, die im Zusammenhang mit der Tötung stehen. Dazu werden am Mittwoch Polizeitaucher eingesetzt. Sie sollen die Gewässer an den städtischen Wallanlagen untersuchen, die in unmittelbarer Nähe zum Tatort liegen.
Zudem gaben die Ermittler bekannt, dass der inhaftierte 18-Jährige neben der Tötung Lenas und einer versuchten Vergewaltigung im November auch verdächtigt werde, drei Einbruchdiebstähle in der Gemeinde Krummhörn nahe Emden begangenen zu haben. In einem Fall habe der Abgleich seines Genmaterials mit Tatortspuren übereingestimmt, hieß es am Dienstag. Damit konfrontiert habe der junge Mann die Einbrüche eingeräumt.
Lenas Todesursache weiterhin unbekannt
Unbekannt blieb zunächst, wie Lena ermordet wurde. Das Obduktionsergebnis belege, dass das Mädchen erstochen wurde, berichtete die "Bild"-Zeitung (Mittwochausgabe) vorab. Demnach erlag die Elfjährige "mehreren Stichverletzungen". Die Emder Polizei wollte zur Todesursache und dem Obduktionsergebnis auf weiterhin keine Angaben machen.
Lena war am 24. März in einem Parkhaus in Emden tot aufgefunden worden. Sie wurde der Polizei zufolge Opfer einer Sexualstraftat. Nach der Freilassung eines zu Unrecht der Tat bezichtigten Jugendlichen wurde am Sonntag Haftbefehl gegen den 18-jährigen Tatverdächtigen erlassen. Er hat die Tötung gestanden.
Tatverdächtiger wohnte in Unna
Bis zum Jahr 2009 hatte der Tatverdächtige in Unna (Nordrhein-Westfalen) gewohnt. Auch dort sei er kriminell aufgefallen, allerdings nicht wegen Sexualdelikten, sagte eine Polizeisprecherin in Unna.
Nach dem Mord an Lena hatte es Lynchaufrufe im Internet gegen den ersten Verdächtigen gegeben. Emden will nun ein Zeichen gegen Vorverurteilungen und Selbstjustiz setzen. Stadtverwaltung, Kirchen, DGB und Stadtsportbund riefen die Bevölkerung zu einer Solidaritätsveranstaltung am Freitag (13. April) vor dem Emder Rathaus auf, wie die Stadtverwaltung am Dienstag mitteilte. Dort soll die Solidarität mit allen Opfern und Betroffenen der Tragödie bekundet werden.
Parallel wurde im Internet-Netwerk Facebook zu einer öffentlichen Entschuldigung für den zu Unrecht beschuldigten Jugendlichen aufgerufen, die am Mittwochabend am Emder Bahnhof geplant ist. Bis Dienstagabend kündigten fast 400 Nutzer ihre Teilnahme an der Veranstaltung an. (dapd)