London. . Was treibt die Randalierer auf die Straßen Londons? Was könnte sie stoppen? Großbritannien steht fassungslos vor dem Gewaltausbruch in seiner Hauptstadt. Und die Polizei gibt zu, dass sie heillos überfordert ist.
Wasserwerfer? Ausgangssperren? Gar das Militär zur Hilfe holen? Innenministerin Theresa May schüttelt den Kopf: „Nein, so machen wir das Großbritannien nicht. Unsere Polizeiarbeit fußt auf Vertrauen und Konsens.“ Soll heißen: Die Beamten hoffen, dass die Bevölkerung Einzelne aus dem wütenden Mob, der mittlerweile schon am helllichten Tag durch die Städte rollt, erkennt und meldet. Doch jedem, der die Szenen aus der Nacht zum Dienstag miterlebt hat, kommt diese Taktik einer bedingungslosen Kapitulation gleich. Londoner organisieren sich mittlerweile in Nachbarschaftsmilizen, statt auf die Polizei zu warten.
Erwachsene, Weiße, Frauen stießen zum Mob in London
21.000 Notrufe sind Montagnacht bei der Polizei eingegangen, die wenigsten Katastrophen konnten die 6000 Beamten verhindern. Eine Frau im Süden der Hauptstadt sprang aus ihrer lichterloh brennenden Wohnung, ohne dass die Feuerwehr es zu ihr geschafft hätte - brandschatzende Teenager griffen auch die Rettungskräfte an. In Deptford im Süden der Hauptstadt wurden Passanten von Schwarzen dazu gezwungen, sich nackt auszuziehen und alle Kleidungsstücke zu übergeben. Längst sind auch Weiße, Frauen und Erwachsene zu dem Mob gestoßen, der Samstagnacht als Protest gegen Polizeigewalt in Tottenham begonnen hatte. Ebenfalls in Hackney traktierten ältere Weiße einen asiatischen Jungen, bis dieser blutend zusammenbrach. Dann halfen sie ihm wieder auf, nur um im nächsten Moment seinen Rucksack zu plündern. In Walthamstow, im Nordosten Londons, diskutierten zwei Mädchen ihrer Plünderpläne wie eine normale Einkaufstour: „Gehen wir erst in die Drogerie oder erst zum Body Shop?“ Eine Vermummte, die HiFi-Geräte aus einem Elektronikladen schleppte, rief, sie würde sich „nur ihre Steuern“ zurückholen.
Elf Londoner Stadtteile hatten die höchst mobilen Vandalen am späten Abend in ihrer Hand, darunter Touristenmagnete wie Camden, Chalk Farm und Portobello Road. Auch in Leeds, Birmingham, Bristol, Liverpool und Nottingham flammten wahre Zerstörungsorgien auf. Die Metropolitan Police war nach eigenen Angaben „jenseits jeder Vorstellungskraft und in einer nie erlebten Art und Weise überlastet.“ Ein Mann in Croydon ist mittlerweile an Schussverletzungen verstorben. Derweil nehmen Anwohner ihre Sicherheit selbst in die Hand: In Hackney verteidigte die türkische Kommune Hauptstraße und Läden von Dalston mit Eisenstangen; die asiatische Kommune schützte Green Street, Bangladeschis die berühmte Brick Lane. Weil viele U-Bahn-Stationen geschlossen wurden und Angestellte schon nach Büroschluss Randalierern hilflos ausgeliefert waren, gewährten Anwohner ihnen für die Nacht Unterschlupf.
Krawalle in England
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Die Zurückhaltung der Polizei ermutigte viele
Mit Überraschung und Unverständnis wird die Eskalation der Unruhen aufgenommen. Gang-Forscher Professor John Pitts von der Universität Bedfordshire ist einer der wenigen Wissenschaftler, der Erklärungen parat hat. „Armut oder individuelle Bösartigkeit sind sicher Teil des Problems“, so der Forscher, „aber die Unruhen sind vor allem ein Produkt des Alltags, den die Aufständischen leben oder gezwungen sind, zu leben. Verherrlichung von Gewalt gehört dazu.“ Die Jugendlichen erlebten den derzeitigen Zusammenbruch sozialer Ordnung als „großartige Befreiung von allem, was sie seit Generationen am Boden der Gesellschaft hält. Das muss man sich wie einen gigantischen Adrenalinstoß vorstellen.“ Die Situation werde dadurch verschärft, dass die Plünderer von der Polizei kaum gestoppt werden. „Da springen dann auch alle anderen auf den Zug auf und wollen was vom Kuchen haben“, so Pitts.
Gerade der Diebstahl von Konsumgütern, Markenturnschuhen, Flachbildschirmen und Handys zeigt laut Pitts die Logik des Mobs: „Große Firmen sind millionenschwer, Randalierer arm. In ihrer Weltsicht ist Plündern etwas ganz Faires.“ Die ökonomische Ausgrenzung als Auslöser der Unruhen ist seiner Meinung nach die „wahre politische Dimension“. Hartes Durchgreifen, wie Premier Cameron es gestern versprochen hat, helfe da nicht: „Wir brauchen sorgsamere Eltern und Politiker, die die Mittelkürzungen in Armutsvierteln noch einmal überdenken.“ Er glaubt, dass die Unruhen erst enden, wenn das Wetter sich „dramatisch verschlechtert“.
Die Regierung ist schon jetzt blamiert
Der nächtliche Alptraum vieler verängstigter Briten entwickelt sich längst auch zu einem politischen Kopfschmerz. Premier David Cameron hat seinen Urlaub abgebrochen und für Donnerstag das Parlament aus der Sommerpause zurückgerufen. Er warnte die Randalierer davor, „nicht nur das Leben eurer Kommune, sondern auch das eigene zu ruinieren.“ Für die Nacht zu Mittwoch ließ er die Zahl er eingesetzten Polizisten auf 16.000 Kräfte verdreifachen; Festgenommene mussten aufgrund der überfüllten Londoner Gefängnisse außerhalb untergebracht werden. „Wir werden alles tun, um die Ordnung wieder herzustellen“, so der Premier.
Für die Regierung ist so kurz vor dem Auftakt der Olympischen Spiele 2012 nicht nur der Kontrollverlust auf der Straße unangenehm. Auch die eklatante Fehleinschätzung von Innenministerin Theresa May setzt die Konservativen unter Druck. Im vergangenen Jahr hatte sie die Sorge führender Beamter, sozialen Unruhen durch Finanzkürzungen nicht mehr gewachsen zu sein, als „lächerlich“ verworfen. Die Gewerkschaft der Polizei hatte prophezeit, dass die hohen Einsparmaßnahmen der klammen Regierung ein „Weihnachtsfest für Kriminelle“ werden würde.
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