Port-au-Prince. .
Vor einem Jahr stürzte ein Erdbeben Haiti in Chaos und Elend. Noch immer kommen die Aufräumarbeiten nicht voran. Ein Besuch im Land der Katastrophe.
Hier wohnte er einmal. Im Haus mit der Nummer 31. Es war keine schöne Adresse, eben eine im Armenviertel Fort National, oberhalb des Hafens von Port-au-Prince. Aber es war sein Zuhause. Bevor das Erdbeben kam, das sie auf Creole Goudou-Goudou nennen, weil es genau so mit diesen schrecklichen Geräuschen über sie kam. Seit Goudou-Goudou lebt Nicolas, der Zwölfjährige, in einem der vielen Zeltlager, und die Angst hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen.
Zerstörte Häuser, wohin man sieht, Trümmer allüberall, als wäre das Erdbeben erst gestern geschehen. Das ist Port-au-Prince, das ist Haiti ein Jahr nach dem schweren Erdbeben. 220 000 Menschen starben, 1,3 Millionen wurden obdachlos. Haiti, ohnehin eines der ärmsten Länder der westlichen Hemisphäre, brachte es die Hölle. Die Bilder des Elends gingen um die Welt, Spenden in dreistelliger Millionenhöhe flossen oder wurden zumindest zugesagt, doch das ohnehin desolate Land erholt sich langsamer, viel langsamer als erwartet.
„Kinder rannten schreiend aus den Zelten“
Nicolas Woodlys Schule ist eine von 5000, die zerstört wurden. Zerstört wie sein altes Leben. Ein festes Gebäude zu betreten, war Nicolas anfangs unmöglich. „Sobald ein in der Nähe vorbeifahrender Lastwagen die Erde erschütterte, rannten die Kinder schreiend aus den Zelten“, erzählt Dabia Marie Carmel, die Lehrerin des Kinderzentrums, das Nicolas nun besucht.
Morgens also geht er in das Zentrum, wo er mit anderen Kindern singen und spielen kann. Nachmittags besucht er eine der Notschulen, die die vielen Hilfsorganisationen in den letzten Monaten im Land errichteten. Ein Stückchen Normalität in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.
Am 12. Januar, um 16.53 Uhr, hatte Nicolas Woodly gerade Schulschluss. Über das Beben selbst mag er nicht reden, nicht über die Panik, die ihn überkam, aber über die zerstörten Häuser, die er sah, und die Toten. Und die Gedanken an sie, an den eigenen Bruder, der in den Trümmern starb, und die Tante, die Cousine, diese Gedanken wird er nicht los.
Zeltlager aus Asphalt
Nicolas wohnt seitdem unten, im Herzen von Port-au-Prince, auf dem Champs de Mars, einem Zeltlager auf Asphalt, in dem dicht gedrängt 20 000 Menschen hausen. Ein Puzzle aus Zelten, Planen, Habseligkeiten. Dazwischen stinkender Müll, und vis a vis der Präsidentenpalast, dieses weiße, einst machtstrotzende Gebäude, dessen Dach eingedrückt über dem Portal hängt, dessen Kuppeln zu den Seiten weggebrochen sind.
Rene Preval, Haitis Präsident, hatte zwei Wochen gebraucht, bis er sich ans Volk wandte, seine Regierung Monate, bis sie aus der Schockstarre erwachte. Als Ende November gewählt werden sollte, ein neuer Präsident und ein neues Parlament, hatte Preval längst das Vertrauen der Haitianer verloren.
Die Wahlen lösten Unruhen aus. Die Wahllokale hatten noch nicht geschlossen, da wandte sich die Opposition mit dem Vorwurf der Manipulation an die Öffentlichkeit. Ausgerechnet Jude Celestin, der Schwiegersohn des Präsidenten, der nicht ein weiteres Mal kandidieren durfte, hatte überraschend gut abgeschnitten. Das mochte niemand glauben. Auf den Straßen wurden Barrikaden errichtet aus brennenden Autoreifen, bekämpften sich die Anhänger der gegnerischen Parteien. Tagelang herrschte Ausnahmezustand.
Experten erwarten
neue Cholera-Welle
Cholera in Haiti
In diesen Tagen nun wird mit großer Sorge der Abschlussbericht internationaler Wahlbeobachter erwartet. Neue Unruhen werden befürchtet. Und Chaos ist das, was das geschundene Land überhaupt nicht gebrauchen kann. Schon jetzt halten Geberländer wegen der schwierigen politischen Lage ihre Spenden zurück.
Zu all dem Übel brach Ende Oktober die Cholera aus. Im Moment scheint es, als sei das Schlimmste überstanden, mit 3500 Toten und 100 000 Infizierten. Doch die Weltgesundheitsorganisation rechnet mit einer zweiten Welle, mit 400 000 Infizierten insgesamt.
„Wir brauchen dringend eine Regierung, die die Führung übernimmt!“, sagt Alinx Jean-Baptiste, der haitianische Landeschef der Kindernothilfe. Die internationalen Hilfsorganisationen täten viel, aber sie könnten nicht alles machen. Erst vier Prozent der Trümmer seien abgetragen. Es fehle an schwerem Baugerät, geräumt werde mit Händen und Schubkarren. Und die vielen Zeltlager drohten zu neuen Armenvierteln Haitis zu werden.