Paris. Jahrzehntelang soll der Chirurg an Kliniken sein Unwesen getrieben haben, führte sogar Buch über seine Taten. Nun steht er vor Gericht.
- In Frankreich hat ein aufsehenerregender Strafprozess begonnen
- Vor Gericht steht ein Chirurg (73), der 299 Kinder – teils unter Narkose – missbraucht haben soll
- Das Ausmaß des Falles schockiert: Über seine Taten soll der Angeklagte sogar Buch geführt haben
Nach dem Aufsehen erregenden Gerichtsfall um die Massenvergewaltigungen der Französin Gisèle Pelicot steht Frankreich vor einem weiteren Monsterprozess: Auf der Anklagebank sitzt diesmal ein Chirurg, seines Zeichens Bauch- und Darmspezialist. Von 1989 bis 2017 soll er Kinder unter Narkose sexuell missbraucht haben. Dass die Opfer im Durchschnitt elf Jahre alt waren und es fast 300 Kinder waren, verleiht dem Fall etwas Unvorstellbares, fast Irreales. Und doch ist alles belegt, die Kinder sind namentlich bekannt.
Und der Täter? Er war schon einmal wegen Missbrauchs an vier Kindern verurteilt worden. Wegen der Vergewaltigung seiner Nichte und zweier weiterer Mädchen wurde er 2020 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Ab Montag, 24. Februar, wird in Vannes (Bretagne) über die neuen Vorwürfe verhandelt. Vier Monate sind anberaumt, der Prozess soll in drei Sälen stattfinden, um die mehreren hundert Zivilkläger unterzubringen.
Chirurg soll 299 Kinder missbraucht haben: „Erinnere mich an seinen eisigen Blick“
Joël Le Scouarnec, wie der Angeklagte heißt, muss sich für sexuelle Nötigung, Missbrauch oder Vergewaltigung von 299 Kindern verantworten. Er soll sich an ihnen in mehreren Kliniken und Krankenhäusern vergangen haben, in denen er nacheinander tätig war. Oft habe er dazu die Narkose ausgenutzt, heißt es, oder Berührungen am Unterleib damit gerechtfertigt, dass sie angeblich medizinisch notwendig seien.
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All dies hielt der heute 72-jährige Opern- und Literaturliebhaber in einem schwarzen Tagebuch minutiös fest. Die Aufzeichnung sind schwer zu ertragen: Einmal schien Le Scouarnec regelrecht zu frohlocken, weil er an einem Tag vier Kinder missbraucht habe. Gegenüber der Untersuchungsrichterin behauptete er, er habe nur sexuelle Fantasien notiert. Sie stimmen allerdings laut Anklage genaustens mit den klinischen Daten überein.
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Die Opfer, 158 Jungen und 141 Mädchen, waren namentlich aufgeführt, dazu Zeitpunkt und Art des Vergehens. Das sei „harte Pornografie“, kommentierte eine heute erwachsene Frau, die es während der Ermittlung nicht über sich brachte, den sie selbst betreffenden Eintrag in dem Tagebuch zu lesen.

Einige der Missbrauchsopfer hatten Erinnerungsblitze, als sie mit den Tagebucheinträgen konfrontiert wurden. „Ich hatte plötzlich ein Flashback von einem Mann, der in mein Krankenhauszimmer tritt“, erzählte eine Klägerin. „Er hält die Decke hoch und sagt, er wolle etwas überprüfen.“ Eine andere Frau sagte: „Als man mir ein Foto von Le Scouarnec zeigte, kam alles zurück. Ich erinnere mich sehr genau an seinen eisigen Blick.“
Arzt soll alleine gehaust haben – mit Sexpuppen in Kindergröße
Die Zeugenaussagen sind für die Beweisfrage erheblich. Im Raum steht aber eine weitere Frage: Wie konnte der mutmaßlich pädophile Chirurg trotz aller Indizien und Hinweise fast dreißig Jahre lang tätig sein, ohne aufzufliegen? Der amerikanische Geheimdienst FBI hatte die französischen Behörden 2004 informiert, dass Le Scouarnec auf russischen Pädophilen-Webseiten mit seiner Kreditkarte bezahlt habe. Der Bretone wurde darauf zu einer viermonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Dabei blieb es. Niemand kam auf die Idee, ihm eine Therapie aufzuerlegen oder seine Berufszulassung zu überprüfen oder abzuerkennen,
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Als Le Scouarnec in Quimperlé einen neuen Posten antrat, alarmierte ein Kollege immerhin die regionale Ärztekammer. Auch sie entschied aber mit elf Stimmen bei einer Enthaltung, den Chirurgen im Amt zu belassen. Sogar das Gesundheitsministerium in Paris war über den Fall informiert, doch niemand reagierte. Dabei entwickelte sich der Arzt mehr und mehr zum Eigenbrötler, soll in seinem verwahrlosten Haus allein gelebt haben – mit aufblasbaren Sexpuppen in Kindergröße.
Zuletzt wechselte der Bretone in eine Klinik in Jonzac. Einige wussten Bescheid, aber sie schwiegen. Neun Jahre lang. Bis ein sechsjähriges Mädchen seinen Eltern von seltsamen Handlungen des Doktors erzählte und alles ans Tageslicht kam. „Was die Arbeitskollegen jahrelang nicht merken wollten, musste meine Tochter weitermelden“, erklärte die Mutter wütend gegenüber lokalen Medien. Als Folge wurde Le Scouarnec 2020 wegen sexueller Vergehen an vier Mädchen, darunter seine eigene Nichte, zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt.
Opfer fordern offene Verhandlung wie im Fall Pelicot
Diese Verurteilung brachte die Ermittlungen zu den 299 anderen Fällen erst richtig in Gang. Im Haus des Täters fand die Polizei unter einer Matratze zwei Festplatten mit 300.000 pädophilen Inhalten und das Tagebuch. Endlich wurden die Opfer informiert. Zumindest jene, die noch am Leben sind, wie Olivia Mons vom Verein „France Victimes“ (Frankreich-Opfer) präzisierte. Ein Betroffener habe seither Suizid begangen.

Le Scouarnec will mit diesem Tod nichts zu tun haben. Er gestand nur, was aufgrund der Beweise ohnehin unbestreitbar ist. Auf all seine Notizen und Bilder angesprochen, sagte er in der Untersuchung, er sei „überrascht von dem Ausmaß“.
Solche Aussagen erinnern an die eines Dominique Pelicot, der als geliebter Familienvater galt, seine Frau Gisèle aber über Jahre betäubt und anderen zum Missbrauch überlassen hatte. Auch ihr Leben in der gehobenen Mittelklasse weist Ähnlichkeiten auf. Le Scouarnec ist wie Pelicot 73 Jahre alt; er war verheiratet und hat drei Kinder. Die Ex-Gattin des Chirurgen will von nichts gewusst haben.
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Offen ist immer noch, ob der viermonatige Prozess wegen der Beteiligung von Kindern hinter geschlossenen Türen stattfinden wird. Das Klägerkollektiv verlangt mit Nachdruck eine offene Verhandlung. Das Urteil soll im Juni ergehen; die Maximalstrafe liegt bei 20 Jahren. Le Scouarnec ist der einzige Angeklagte. Frédéric Benoist vom Verein „La Voix de l’Enfant“ (Die Stimme des Kindes) erklärte, es sei zu befürchten, dass alle Verfehlungen von Behörden und Beteiligten kaum je geahndet oder auch nur erhellt würden.