Berlin. Caroline Darian schreibt in ihrem Buch über den Horror, den ihr Vater über die Familie brachte. Und was dieser immer noch in ihr auslöst.

Was sich ihr unlöschbar einbrannte, war die Uhrzeit. „Auf der Backofenuhr, auf die ich zufällig blicke, ist es 20.25 Uhr. Ich heiße Caroline Darian und erlebe gerade die letzten Sekunden eines normalen Lebens.“ So beschreibt die Tochter von Dominique und Gisèle Pelicot in ihrer Biografie „Und ich werde Dich nie wieder Papa nennen“ (Kiepenheuer & Witsch, 222 S., 22 Euro), das es nun auch auf Deutsch gibt, ihre private Hölle. Wie aus dem geliebten Vater ein brutaler Vergewaltiger wurde: „Ich werde mich daran gewöhnen müssen, die Worte ‚mein Vater‘ und ,Sexualstraftäter‘ zusammenzubringen.“

Das, was Dominique Pelicot seiner ehemaligen Frau Gisèle an Leid zugefügt hat, ist an Monstrosität kaum zu überbieten. Fast zehn Jahre lang hat der 72-Jährige seine Ehefrau heimlich mit Medikamenten betäubt, um sie im bewusstlosen Zustand zu vergewaltigen und mehr als 50 fremden Männern zuzuführen.  Mit 20 Jahren Haft verhängte das Gericht in Avignon im Dezember 2024 die Höchststrafe gegen Dominique Pelicot. Die Fakten, die weltweites Grauen auslösten, wurden öffentlich. Im Verborgenen aber blieb, was das Verbrechen mit den Beteiligten machte. Caroline Darian lässt in ihrer Biografie in ihre private Hölle blicken.

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Das Haupt-Opfer sei ja ihre Mutter gewesen. Doch auch für sie, Caroline (46), sei eine Welt zusammengebrochen, weil sie erfährt, dass ihr Vater auch von ihr Fotos öffentlich gemacht hat und sie ins Netz gestellt hat. Ihre Qual hat noch eine andere Seite, die verstörend wirken mag: „Mein Vater fehlt mir. Nicht der, der bald vor den Richtern steht“, schreibt sie im Vorfeld des Gerichtsverfahrens, sondern der Mann, der sich von Kind an um sie gekümmert habe. „Ich habe ihn so sehr geliebt damals, bevor ich erfuhr, was für ungeheuerliche Dinge er getan hat.“

Tochter von Dominique Pelicot: „Das ist der Punkt, an dem alles ins Kippen gerät“

Mit großer Nüchternheit beschreibt Darian, wie das Grauen in ihre heile Welt eindringt. Ihr Ehemann Pierre habe ihrem Vater noch eine SMS geschickt, dass man sich auf einen Familienausflug freue. Dann habe er sich kurz zum Mittagsschlaf hingelegt. „Als er aufwacht, entdeckt er zwei verpasste Anrufe von Festnetznummern aus dem Departement Vaucluse. Das ist der Punkt, an dem alles ins Kippen gerät“, so Caroline Darian.

Es ist Montag, der 2. November 2020, als Pierre ihr mitteilt, dass man „Dominique festnehmen“ wird, weil er dabei erwischt wurde, „wie er drei Frauen in einem Supermarkt unter den Rock gefilmt hat“ und weil man ihm „noch sehr viel schlimmere Taten“ vorwirft. Carolines Welt gerät ins Wanken. Als sie hört, dass die Polizei Videos gefunden hat, auf denen ihre Mutter „schlafend zu sehen ist, offensichtlich betäubt, mit Männern, die sie vergewaltigen“, tue sich in ihr ein Abgrund auf.

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Ein weiterer Schock ereilt sie, als sie aufs Kommissariat gebeten wird. Man müsse ihr zwei Fotos zeigen und wolle wissen, ob sie sich wiedererkenne. „Auf dem ersten Abzug sehe ich eine junge Frau mit kastanienbraunem Bobhaarschnitt, die auf der linken Seite auf dem Bett liegt. Die Frau trägt eine weiße, warme Schlafanzugjacke und eine beigefarbene Unterhose. Die Bettdecke ist auf der rechten Seite zurückgeschlagen, sodass man ihren Hintern in Großaufnahme sehen kann. Sie schläft. Ich finde sie unglaublich bleich und sie hat Augenringe. Ich hebe den Kopf und sage ihm, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich mich wiedererkenne.“

Dann zeigt ihr der Polizeibeamte das zweite Foto. „Dieselbe Position, auf den Millimeter genau, es ist erschreckend.“ Diesmal trage die Frau ein Tanktop mit schwarzen und weißen Motiven und die gleiche Art von Unterhose wie auf dem vorherigen Foto. „Ich versichere noch einmal, dass ich mich nicht wiedererkenne.“ Doch der Beamte hakt nach und weist sie darauf hin, dass sie doch sehr wohl einen braunen Fleck auf Ihrer rechten Wange habe, genau wie diese junge Frau auf den beiden Fotos. „Und dann macht es klick. Ein Prickeln läuft durch meinen Körper, ich sehe Sternchen, Flecken hindern mich, klar zu sehen, es brummt in meinen Ohren. Ich falle nach hinten.“

PROCES DES VIOLEURS DE MAZAN
Gisèle Pelicot (l.) mit Anwalt und ihrer Tochter Caroline beim Vergewaltigungsprozess in Avignon. © picture alliance/dpa/MAXPPP | Dauphin Philippe

Ihr sei damit völlig klar, dass ihr Vater auch sie betäubt habe. Sie erzählt es ihrer Mutter. „Aber sie reagiert nicht. Sie sitzt vor mir, aufrecht, ihr Blick ist leer. Sie zweifelt an, was ich gesehen habe. Es haut mir fast die Beine weg.“ Ihr Bruder Florian unterstützt sie. Er erkennt sogar den Ort. Eines der Schlafzimmer in der alten Wohnung der Eltern. Lange vor 2013. „Da begreife ich, dass Mama sich fürs Verleugnen entschieden hat.“

Pelicot-Tochter im Interview: „Vater soll im Gefängnis sterben“

Im Interview mit der BBC sagt Caroline nun: „Ich bin überzeugt, dass er mich vergewaltigt hat. Der einzige Unterschied zwischen meiner Mutter und mir ist, dass ich keine Beweise habe wie sie.“ Im Prozess bestreitet Dominique Pelicot, sich an seiner Tochter vergangen zu haben. „Ich sehe ihn als Kriminellen, den Sexualverbrecher, der er ist“, sagt diese. Und fügt an: „Er sollte im Gefängnis sterben. Er ist ein gefährlicher Mann.“

Lesen Sie hier die Analyse zum Pelicot-Urteil.

Diesem Hass stehen im Buch auch immer die Momente der Harmonie mit dem Vater entgegen. Das wirkt bei der Lektüre durchaus verstörend. Man hat immer versucht, eine Bilderbuchfamilie darzustellen. Und der Leser fragt sich schon: Wieso haben alle diese Idylle aufrechterhalten, obwohl es Anzeichen gegeben hat, dass mit dem Vater etwas nicht stimmte? „Ich will es nicht schönreden, dass ich nichts bemerkt habe. Aber dass mein Urteilsvermögen versagt hat, dafür fühle ich mich schuldig.“

Caroline Darian und ihr Bruder David Pelicot in Avignon, wo der Aufsehen erregende Vergewaltigungsprozess gegen ihren Vater stattfand.
Caroline Darian und ihr Bruder David Pelicot in Avignon, wo der Aufsehen erregende Vergewaltigungsprozess gegen ihren Vater stattfand. © AFP | Clement Mahoudeau

Selbst als Alarmleuchten hätten blinken müssen, zog Caroline nicht die Reißleine. Es war August 2019. „Ich kam gerade von einer dritten Notoperation nach Hause. Fünf Monate intensiver Schmerzen wegen einer Verletzung im Intimbereich, die einfach nicht verheilen wollte.“

Noch während ihrer Krankschreibung will ihr Vater Geld von ihr. „Tut mir leid, ich weiß, das ist nicht der richtige Moment, aber ich brauche deine Hilfe.“ Er brauche 100 Euro. „Wie immer. Ich schaffe es nicht, Nein zu sagen“. Sie kann sich nicht von „dieser Autorität“ befreien. Sie überweist das Geld direkt. Zehn Minuten später habe er wieder angerufen. Er brauche noch mal schnell 120 Euro. Sich zu widersetzen, habe sie nie gelernt.

Schwerer Vorwurf an Gisèle Pelicot: Deshalb hadert die Tochter mit ihrer Mutter

Vielleicht lebte sie das Muster, das ihre Mutter vorgab, die ihren Vater immer geschützt habe und sich damit auch gegen die Tochter stellte. „Manchmal wirft sie mir meine Schärfe vor, ja sogar Undankbarkeit ihm gegenüber“, schreibt Caroline Darian. Immer noch würde sich ihre Mutter verantwortlich fühlen, dass es dem Vater gut geht. Dabei habe er stets über seine Verhältnisse gelebt und sich überall Geld geliehen, das er nie zurückzahlte. Sein Unternehmen für elektrische Forschung ging 2001 Pleite. Um ihr Vermögen vor den Gläubigern zu schützen, ließen sie sich 2004 scheiden, heirateten dann drei Jahre später erneut. Kurz vor Prozessbeginn 2024 ließ Gisèle Pelicot sich erneut scheiden.

Es ist ein Buch der komplizierten Gefühle. So kann Caroline kaum ertragen, wenn ihre Mutter immer wieder davon redet, wie glücklich sie einmal mit ihrem Mann war, wie sie „lieber die guten Momente in Erinnerung behalten“ wolle. Dabei steckt die Tochter ja selbst auch in diesem Zwiespalt, wie sie ausführlich beschreibt. Bei ihrer Mutter sei das Schönreden eine Art Selbstschutz, ein Versuch, nach dem Grauen weiterzuleben. Vielleicht hat sie das mit ihrer Tochter gemein.