Berlin. Fluglinien haben immer mehr Probleme mit betrunkenen und aggressiven Passagieren. Aber schon am Flughafen beginnt der Ausnahmezustand.
Der Flug ist verspätet, der Nachbar macht sich auf der Armlehne breit und das Essen ist eine geschmacklose Masse: Fliegen bedeutet für die Nerven Ausnahmezustand. Als „Air Rage“ – Luftwut – werden im Englischen die Wutanfälle bezeichnet, die Flugzeuge regelmäßig zu außerplanmäßigen Landungen zwingen. Vor allem während der Corona-Pandemie nahmen Zwischenfälle mit aggressiven Passagieren drastisch zu.
Und auch nach Covid scheint sich das Verhalten vieler Fluggäste nicht gebessert zu haben. Erst im Januar forderte Ryanair, die größte Fluggesellschaft Europas, dass Flughäfen den Ausschank von Alkohol einschränken sollten. Auslöser war ein betrunkener Passagier, der auf einem Ryanair-Flug von Dublin nach Lanzarote pöbelte und die Crew zu einer Zwischenlandung in Porto zwang. Schaden: 15.000 Euro.
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Flughäfen: Die „heiligen Haine“ der Moderne
Warum Fluggäste sich bereits am Flughafen so anders verhalten, erklärt der britische Psychologe Steve Taylor in „The Conversation“. Flugangst, Stress und der Lärmpegel am Flughafen würden bereits das Aggressionspotenzial der meisten Menschen erheblich steigern. Doch darüber hinaus müsse man auch die „Psychogeographie“ des Kosmos Flughafens verstehen.
Psychogeographie ist ein Begriff aus den 1950er Jahren, der beschreibt wie sich ein geografischer Ort auf die Emotionen und das Verhalten von Personen auswirkt. Taylor nennt dafür als Beispiel das keltische Konzept der „dünnen Orte“, heilige Haine oder Wälder, „wo der Schleier zwischen der materiellen und der spirituellen Welt dünn ist.“ Und ein Ort zwischen zwei Welten ist heutzutage der moderne Flughafen, schreibt Taylor, der Dozent für Psychologie an der Leeds Beckett Universität ist.
In der Transitzone des Flughafens existieren die Passagiere zwischen Staatsgrenzen und Zeitzonen. Ein Flug kann sogar theoretisch in der Zeit zurückreisen. Ein Kontrollverlust, der auch Angst auslösen könne. Flughäfen seine eine Zone der Abwesenheit, in der der gegenwärtige Moment unerwünscht sei.
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Flughafen baut soziale Hemmungen ab
Wichtig für die Reisenden sei die Zukunft – also ihre Flüge und die Abenteuer, die vor ihnen liegen, wenn sie am Zielort ankommen. Diese intensive Zukunftsorientierung führe oft zu Frustration, insbesondere wenn Flüge verspätet sind.
Auch persönliche Grenzen werden am Flughafen fließend. So werden Leute nicht nur aggressiv gegenüber ihren Mitmenschen, es könne auch im Gegenteil zu ungewöhnlich sozialem Verhalten kommen. Fremde teilen intime Details miteinander. „Im Niemandsland gelten keine normalen sozialen Hemmungen“, heißt es bei Taylor. Und gerade Alkohol könne diesen sozialen Zusammenhalt wiederum stärken.
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Diesen Effekt hat die Flugzeugkabine auf die menschliche Psyche
Flughäfen würden ein Gefühl der Orientierungslosigkeit erzeugen: „Wir definieren uns über Zeit und Ort. Wir wissen, wer wir in Bezug auf unsere täglichen Abläufe und unsere vertraute Umgebung sind. Wir definieren uns auch über die Nationalität“. Ohne diese Identitäten können Menschen sich schnell hilflos und orientierungslos fühlen, was schädliche Auswirkungen haben könne.
Laut einer Umfrage des Londoner Gatwick-Flughafens weinen 16 Prozent der Männer und sechs Prozent der Frauen mehr, wenn sie einen Film im Flugzeug schauen. Das könnte nicht nur an dem Abschied von Familie, an Heimweh oder Vorfreude auf den Urlaub liegen. Auch im Flugzeug selbst gibt es eine ganze Reihe von physischen Faktoren, die zu ungewöhnlich emotionalem Verhalten führen können.
So ist die Luft in der Kabine oftmals trockener als in einigen der trockensten Wüsten der Erde. Auch ein reduzierter Luftdruck in der Kabine senkt den Sauerstoffgehalt im Blut der Passagiere um sechs bis 25 Prozent, was auch die Wirkung des Alkohols verstärkt. Einige Studien zeigen auch, dass schon geringe Veränderungen im Sauerstoffgehalt des Blutes, die Denkleistung beeinträchtigen können.
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