Tokio. Sechs Stunden Pflege, zwei Stunden Training: Um die alternde Bevölkerung aufzufangen, setzt Japan auf Muskeln. Eine Idee für Deutschland?
Pfleger Yuuya Yoshimura ist in diesen Tagen nicht voll einsatzfähig. „Ich bin gerade in der Muskelaufbauphase“, sagt der 30-Jährige, während er einen älteren Herren im Rollstuhl in Richtung Badezimmer schiebt. In wenigen Wochen stehe ein Bodybuilding-Wettkampf an. Und Yoshimura, ein drahtig-kräftiger Typ, rechnet sich Chancen auf den Sieg aus. „Tja, heute Vormittag hab‘ ich die Arme trainiert. Das macht sich jetzt bemerkbar“, erklärt der Pfleger verlegen. „Weiß ich doch“, lächelt der ältere Mann, als Yoshimura ihn ächzend aus dem Rollstuhl hebt.
Szenen wie diese, die in der Tagespflegestätte in Ichinomiya nahe der zentraljapanischen Metropole Nagoya öfter vorkommen, könnten der Beginn eines Wandels in Japans Pflegebranche sein. Drei von zehn Personen in dem ostasiatischen Land sind älter als 65 Jahre. Der Bedarf an Pflegepersonal nimmt Jahr für Jahr zu, aber Unternehmen finden kaum Menschen, die den Job machen wollen. Yoshimuras Arbeitgeber, der Pflegedienstleister „Visionary“, hat dieses Problem nicht: Weil die Angestellten nicht nur für ihren Pflegejob bezahlt werden, sondern auch fürs tägliche Krafttraining.
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Japans Pflege neu gedacht: Muskelkraft als Erfolgsrezept
Yusuke Niwa, ein Mann mit ähnlich breitem Kreuz wie sein Angestellter Yoshimura, steht mit verschränkten Armen in seinem Büro und grinst. „Ich hätte auch nicht gedacht, dass es so einfach ist“, sagt der 37-Jährige, der vor 14 Jahren „Visionary“ gegründet hat. „Aber es ist mir wohl gelungen, den Pflegejob für diejenigen sexy zu machen, zu denen er sowieso passt.“ Bewerbungen würden jeden Monat eingehen, sagt Niwa, viele von Bodybuildern.
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Im Jahr 2009 gründete er sein Unternehmen „Visionary“ – ohne besonderes Investitionskapital, ohne größere Marktstudien. Niwa sagt, er habe einfach auf die große Nachfrage vertraut, von der in diesem Sektor alle sprachen. So mietete er in einem Gewerbegebiet in Ichinomiya einen günstigen Neubau mit drei großen Räumen und barrierefreien Toiletten an. Er begann mit rund 20 Mitarbeitenden, obwohl die Angestellten nur rund 200.000 Yen (rund 1.230 Euro) als Einstiegsgehalt erhielten – nicht viel, aber leicht überm Durchschnitt in der Pflege.
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Auch an Klienten kam „Visionary“ schnell: Die anliegenden Kommunen warteten nur darauf, ihre pflegebedürftigen Einwohnerinnen und Einwohner in Tagesstätten wie jene von Niwa zu schicken, wo sie sich mit gemeinsamem Fernsehen, Zeichnen, Gesellschaftsspielen oder Spaziergängen vom manchmal spröden Alltag ablenken könnten. Der öffentliche Sektor bezuschusst solche Aktivitäten Versicherter, weil sie Menschen länger gesund halten – und damit das Gesundheitssystem entlasten.
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„Wir leisten keine medizinische Pflege, deshalb ist die Ausbildung auch innerhalb einiger Monate zu schaffen“, erklärt Niwa. „Beim Training der Arbeitskräfte geht es vor allem um Rechtliches, Administratives und die wichtigsten Griffe im Umgang mit den Klienten.“ Man lernt etwa, den zu Pflegenden Vorschläge zu machen, sie nie zum Malen, Essen oder Fernsehen zu zwingen. Und wie man sie am besten aus einem Rollstuhl hebt.
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Wesentlich mehr als die 20 Angestellten fand Niwa aber zunächst nicht – sodass der Betrieb, trotz großer Nachfrage, kaum weiterwachsen konnte. Erst ein knappes Jahrzehnt nach der Gründung kam Niwa auf die entscheidende Idee für sein Unternehmen: „Im Fitnesscenter schaute ich immer wieder andere Typen an, die etwas besser aussahen als ich. Eines Tages dachte ich mir: Wenn ich solche Typen dazu bekäme, für mich zu arbeiten, wäre das der Jackpot.“
Es war der Beginn dessen, was in japanischen Zeitungen, TV-Sendern und Newsportalen „Macho-Kampagne“ genannt wird. Im Jahr 2018 forderte Niwa über soziale Medien sämtliche Pumper Japans auf, für ihn zu arbeiten. In einem sozialen Job, den die Gesellschaft brauche. Sein Angebot: Von den acht täglichen Arbeitsstunden sind zwei fürs Krafttraining reserviert. Ein Fitnesscenter-Abo ist Teil des Pakets.
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„Matcho-Kampagne“ brachte Gründer Hunderte Bewerbungen ein
Auf 30 Bewerbungen hatte Yusuke Niwa gehofft, um eine neue Zweigstelle in der Nähe zu öffnen. In kürzester Zeit hätten sich mehr als 300 Interessenten gemeldet. Eine war Yoshimura, der dafür eine Stelle beim Autokonzern Toyota aufgab. „Der Job war zwar besser bezahlt“, sagt Yoshimura, während er sich in einer kurzen Pause die Arme dehnt. „Aber es war auch langweilig. Man hatte immer nur 15 Minuten Pause, konnte ansonsten mit niemandem reden. Die ganze Zeit strich ich Autos an.“
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Jetzt mache ihm seine Arbeit Spaß. „Hier ist mein Hobby Teil des Jobs, und außerdem kann ich stolz sein auf das, was ich tue.“ Einer der Pflegebedürftigen, der 51-jährige Ryoichi Tsuneyoshi, der eine Lähmung hat, lächelt Yoshimura zu: „Bei den Muskelmännern ist man in guten Händen.“ Kann mit seinem Konzept die Wende gelingen, die die Pflegewelt nicht nur in Japan dringend braucht? Zumindest könnte „Visionary“ einen Beitrag leisten, Jobs im Pflegesektor attraktiver zu machen.
Unternehmen betreut rund 500 ältere Menschen
Das Unternehmen hat mittlerweile um die 190 Angestellte und unterhält in mehreren Orten in Zentraljapan 21 Zweigstellen, in denen insgesamt rund 500 ältere Personen oder Menschen mit Behinderung tagsüber gepflegt und betreut werden. Der Jahresumsatz erreicht laut Gründer Niwa rund ein 1,3 Milliarden Yen (rund 7,63 Millionen Euro), die Profitmarge betrage zehn Prozent. „Damit sind wir in der Branche ganz gut dabei“, sagt der Chef. „Und so, wie wir aufgestellt sind, arbeitet eigentlich kein anderer Betrieb.“
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„Visionary“ hat bisher keine direkte Konkurrenz durch Unternehmen, die ebenfalls Bodybuilder anwerben. Aber Ähnliches geschieht bereits. So engagiert sich in Tokio ein Ex-Sumoringer darin, andere Ehemalige seines Sports für die Tagespflege älterer Menschen zu gewinnen. Zwei solche Pflegehorte betreibt er bisher. Von ähnlichen Beispielen, wo es Quereinsteiger in die Pflege zieht, ist in Japan zuletzt immer mal wieder zu hören.
Japaner möchte sein Geschäftskonzept nach Deutschland bringen
Niwa will weiter expandieren. Dabei helfen Bodybuilder wie Yoshimura, von denen mittlerweile rund 30 für das Unternehmen arbeiten. „Bei Einstellungsgesprächen haben mir mehrere Nichtsportler berichtet, sie seien durch die Macho-Kampagne auf uns aufmerksam geworden“, sagt Niwa. Das betriebliche Fitnessabo gilt auch für jene, die mit Krafttraining erst anfangen wollen. Mittelfristig will sich Niwa nicht nur in ganz Japan etablieren, sondern auch im Ausland.
Derzeit sondiere er den vietnamesischen Markt, wo die Bevölkerung ebenfalls altert, so der Gründer. Ein nächster Schritt wäre Europa, dessen demografische Entwicklung Japan noch viel mehr ähnelt. „Auch in Deutschland gibt es doch bestimmt viele kräftige Typen, die sich freuen würden, dafür bezahlt zu werden, etwas Gutes zu tun und nebenbei Muskeln aufzubauen?“