Solingen. Fünf Kinder sind tot in einer Wohnung in Solingen gefunden worden. Tatverdächtig ist die 27-jährige Mutter. Viele Fragen sind noch offen.

Es war „totenstill“ an diesem Morgen, sagt Nina von gegenüber; man habe überhaupt nichts gehört, sagt die Frau von nebenan. „Wieso haben wir nichts mitbekommen?“ Das ist die Frage, die in Solingens Hasselstraße alle stellen an diesem grauen Nachmittag, und die Nachbarn meinen nicht die Geräusche. Sie meinen: Da lebte eine unglückliche Frau in ihrer Mitte, und niemand hat davon gewusst. „Wir hätten früher reagieren können“, sagt Nina, „man hätte ihr helfen müssen.“

Noch weiß man nicht, was die 27-Jährige bewegt hat, fünf ihrer sechs Kinder zu töten: drei Mädchen und zwei Jungen im Alter von 8, 6, 3, 2 und einem Jahr. Was die Mutter trieb, sich selbst am späten Donnerstagvormittag in Düsseldorf vor eine S-Bahn zu werfen.

Vielleicht wird man sie irgendwann fragen können, sie hat ja überlebt. So wie ihr Ältester (11), den sie offenbar mitnahm von Solingen nach Düsseldorf, der nun bei seiner Oma sein soll, jedenfalls: „im sicheren familiären Umfeld“. Diesen Elfjährigen, von dem die Nachbarn sagen, er sei so ein lustiger Kerl: „Jeder kennt den“, sagt Tayfun, 19, „der läuft hier immer mit seiner Musikbox über die Straße. Oder, er lief.“

Solingen-Hasseldelle: eine Großwohnsiedlung aus den 70ern

Die Straße im Stadtteil Hasseldelle, „sozialer Brennpunkt“, heißt es jetzt überall im Rundfunk. Aber die hier wohnen, wehren sich. „Wir werden sofort wieder abgestempelt.“ Sicher ist die Großwohnsiedlung aus den frühen 70ern kein Beispiel für „Schöner Wohnen“, eine der wenigen Ecken mit Hochhäusern in der Stadt, grau verschieferte Blocks mit fünf bis sieben Etagen, „viele Leute mit Migrationshintergrund“, sagt Tayfun.

Die Wohnungen sind groß, über 100 Quadratmeter, zwei Kinderzimmer mindestens, das zieht Großfamilien an. „Aber es hat sich hier alles sozialisiert“, sagen Tayfun und seine Freunde, es sei lange nichts passiert, die letzte Schlägerei, erzählt man sich, sei elf Jahre her, mindestens. Und dies hier ist kein Verbrechen gewesen, es ist ein Familiendrama.

Bis tief in die Nacht hinein untersuchten Polizisten und Kriminaltechniker den Tatort in Solingen.
Bis tief in die Nacht hinein untersuchten Polizisten und Kriminaltechniker den Tatort in Solingen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Es geschah in der zweiten Etage, im Wohnblock ganz links, hinter weißen Tüllgardinen, wie sie hier so viele haben. In den Wohnungen darüber drücken Kinder hinter solchen Vorhängen ihre Nasen platt. Im Fenster über dem Durchgang zum Hof klebt jetzt das gleiche Flatterband, das sie unten um die Mülltonnen gespannt haben: „Polizei-Absperrung“. Fast 50 Polizisten sollen in der Wohnung sein, Spurensicherer in weißen Anzügen, Kriminaltechniker mit schweren Koffern, „es ist hier noch sehr viel zu tun“, sagt Polizeisprecher Stefan Weiand. Erst in der Nacht wird ein Beerdigungsinstitut die fünf toten Kinder aus der Wohnung holen und abtransportieren.

Frauen stehen weinend vor den Türen

Die ersten Beamten, die Sanitäter, das erzählt Christian auf seinem Balkon gegenüber, seien am Mittag weinend aus dem Haus gekommen. „Die waren fertig.“ Viertel vor zwei war es da, sie sollen die Tür mit einer Brechstange geöffnet haben – und dann lagen dort die Kinder.

Mit Stofftieren und Kerzen zeigen die Nachbarn ihre Trauer: Eine 27-jährige Mutter soll in Solingen fünf ihrer sechs Kinder umgebracht und dann versucht haben, sich selbst zu töten.
Mit Stofftieren und Kerzen zeigen die Nachbarn ihre Trauer: Eine 27-jährige Mutter soll in Solingen fünf ihrer sechs Kinder umgebracht und dann versucht haben, sich selbst zu töten. © dpa | Marcel Kusch


Wie sie umgekommen sind, will die Polizei am Donnerstag noch nicht sagen. Dies werde „im Rahmen der Ermittlungen und einer Obduktion geklärt“, am Freitagnachmittag soll es eine erste Pressekonferenz geben. Die Nachbarn haben unzählige Fragen, „wieso haben die nicht geschrien“? Jemand widerspricht dem Gerücht von der Stille, erzählt von lauter Musik, aber was stimmt?

Frauen stehen weinend vor den Türen, „die Nachbarn nimmt das auch mit“, sagt Christian. Nina hat ihre Kinder weggeschickt, sie durften aus der Schule gar nicht erst nach Hause kommen. In ihrem Fenster hängt noch der Corona-Regenbogen, er ist in der Krise schon etwas verblasst: „Alles wird gut.“

Doch für eine Familie im Viertel wird nichts mehr gut. Die Mutter wissen die meisten hier nicht zuzuordnen, die Kinder schon: Gespielt haben sie, auf der Straße und im Hof, „immer unter Aufsicht“, sagt eine Frau, „eine ruhige Familie“. Wo der Vater ist, auch darüber schweigt die Polizei, man erzählt sich in der Hasselstraße, er wohne nicht dort. Sie habe aber inzwischen Kontakt zum Vater der Kinder, teilte die Polizei am frühen Freitagmorgen mit.

Polizei muss klären: „Wie konnte so etwas passieren?“

Auch wer die Polizei gerufen hat, wird nicht bestätigt. Es heißt, es sei die Oma in Mönchengladbach gewesen: Ihre Tochter habe den Enkeln etwas angetan, sie wolle sich selbst umbringen, soll sie gesagt haben. Wenig später warf sich die 27-Jährige vor den Zug.

„Es ist eine Katastrophe, was da passiert ist“, sagt Polizeisprecher Weiand, selbst der Profi wirkt bedrückt. Man müsse sich jetzt um den Jungen kümmern, natürlich wisse das Jugendamt Bescheid. Seine Kollegen müssten herausfinden: „Wie konnte so etwas passieren?“

Trauer in Solingen: Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) und seine Frau Ursula Linda legten am Nachmittag Blumen zum Gedenken an die fünf toten Kinder ab. Die Nachricht, sagt Kurzbach, habe ihn „tief ins Herz getroffen“.
Trauer in Solingen: Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) und seine Frau Ursula Linda legten am Nachmittag Blumen zum Gedenken an die fünf toten Kinder ab. Die Nachricht, sagt Kurzbach, habe ihn „tief ins Herz getroffen“. © dpa | Roberto Pfeil

Das ist die Aufgabe der Ermittler. Für die anderen, sagt Oberbürgermeister Tim Kurzbach, „ist heute der Tag, an dem wir sehr, sehr traurig sind“. Was geschehen sei in der Hasseldelle, habe ihn „tief ins Herz getroffen“. „Vor allem, wenn man selber Vater ist, ist diese Nachricht einfach unfassbar.“

Kurzbach ist kurz vor die Haustür getreten, er trug eine weiße Grabkerze in der Hand, sagt, er habe ein Gebet gesprochen. Im Wahlkampf, den der SPD-Politiker nun ein paar Tage ruhen lassen will, wirbt der OB mit einer „guten Zukunft“ für Solingen. Fünf seiner kleinsten Bürger werden keine mehr haben.