Essen. Auch drei Jahre nach ihrer Flucht aus dem Kellerverlies ihres Entführers kämpft Natascha Kampusch um Freiheit. Sie hat ihren Weg noch nicht gefunden. "Ich fühle mich so entwurzelt", sagt die inzwischen 21-Jährige.
Lavendel entspannt, beruhigt und vertreibt die Motten. Lavendel ist die Farbe von Natascha Kampusch: Das zarte Lila trug die 18-Jährige in ihrem ersten Interview, eine Bluse und dieses Kopftuch, das ihr immerzu von den blonden Haaren rutschte, die sie doch verbergen wollte. Und sie trägt es nun wieder auf diesem aktuellen Bild, in Oberteil und Nagellack – beruhigt und vertreibt die Motten. Diese lästigen Lebewesen, die auf sie fliegen und an ihr kleben, als sei sie, Natascha, selbst einer der Scheinwerfer, die auf sie gerichtet sind, immer noch.
Drei Jahre ist es am Sonntag her. Drei Jahre, dass die Welt plötzlich schaute auf dieses Mädchen, das sie lange gesucht hatte und dann fast vergessen und das nun auf einmal auf der Straße stand in Strasshof bei Wien, Österreich: Natascha Kampusch. Entführt, eingekerkert, im Keller gehalten über 3000 Tage, nun keine kleine Zehnjährige mehr, sondern eine junge Frau von 18, die ihre Jugend verloren hatte unter der Erde und dem strengen Regiment ihres Peinigers. Seither ist sie frei – und sucht ihre Freiheit bis heute.
Das Haus aufgeräumt
„Ich fühle mich”, sagte sie jetzt der Süddeutschen Zeitung, „wie eine Pflanze, die irgendwo hingeschwemmt wird, kurzfristig Wurzeln fasst, dann weitertreibt.” Sie hat den Weg noch nicht gefunden, vielleicht auch sich selbst noch nicht wieder, die Leute, sagt sie, hätten ihr das „Ich-Sein” genommen. Denn diese Leute gucken: wie sie ihre Schulausbildung versucht nachzuholen. Wie sie den Führerschein macht. Was sie überhaupt tut und wo sie hingeht. Sie haben auch gesehen, dass sie für die Kellerkinder von Amstetten gespendet hat und wie sie in diesem Sommer das Haus aufräumte, in dem sie eingesperrt war. Es gehört jetzt ihr.
Natascha Kampusch hasst es, eine Sehenswürdigkeit zu sein. Und gleichzeitig sehnt sie sich nach Nähe. Echte Freunde, sagt sie, hat sie nicht. Sie geht auf Distanz, sie will nicht, dass die Leute alles wissen über sie, sie vertraut kaum einem, doch gleichzeitig, sagte sie der „SZ”, fürchte sie sich „vor dem Ganz-allein-gelassen-Werden”.
Dabei gibt es Menschen, die für sie kämpfen, aber das will sie nicht: Die gucken noch genauer hin. Da ist ihr Vater, zu dem sie keinen Kontakt hat, der aber alles wissen will von damals, weil er glaubt: Wolfgang Priklopil, der Mann, der seine Tochter entführte, muss einen Komplizen gehabt haben. Und da ist Ludwig Adamovich, ein früherer Verfassungsrichter, der dasselbe denkt, ermittelt und nicht aufgibt. Die „Causa Kampusch”, wie man in Österreich sagt, ist noch nicht abgeschlossen; es gibt Zeugen, die vielleicht mehr wissen, und Zeugen, die nichts mehr wissen wollen, es gibt Klagen und Gegenklagen, im Alpenland reden sie von einer „Staatsaffäre”.
Und in all dem sucht Natascha, die inzwischen 21 ist, noch immer ihren Platz: „Ich fühle mich so entwurzelt.”
„Nataschas Welt” ist leer
Sie sagt solche Sätze auch heute noch so ruhig und wohlformuliert, wie sie es gleich nach ihrer Flucht tat, als die Welt sich wunderte: wie man das kann, nach acht Jahren im Keller. Aber etwas ist anders. Zum ersten Jahrestag erklärte sie über den Mann, den sie „Verbrecher” genannt hatte: „Er hat versucht, mich zu manipulieren, wie er mich gerne haben wollte.” Heute sagt sie: „Der Täter hat mich mich sein lassen. Das war so eine Ehrlichkeit.”
Acht Jahre im Keller
Am 23. August 2006 gelang Natascha Kampusch die Flucht aus dem Kellerverlies von Wolfgang Priklopil, der sie über acht Jahre zuvor auf dem Schulweg entführt hatte. Nachdem sein Opfer in einem unbeobachteten Moment davongerannt war, warf sich Priklopil (44) noch am selben Abend vor einen Zug. Die WAZ führte damals das erste Interview mit der 18-Jährigen und gab ein Extrablatt heraus.
Und sie sagt noch mehr, was sie nie sagen wollte. Nie wollte sie reden über die Beziehung der beiden; die Hobbymalerin hat ja selbst ein bisschen mitgezeichnet an dem Bild eines freundlichen Verhältnisses zwischen Opfer und Entführer, „Stockholm-Syndrom!”, riefen da die Psychologen. Nun nennt die 21-Jährige sich selbst im Rückblick „diese Person, die er unterdrückt, demütigt, quält und schlägt”.
Trotz allen Interesses; tatsächlich kennt womöglich niemand „Nataschas Welt”. Die gleichnamige Seite im Netz, die „offizielle Website” heißt – ist leer. Es gibt einen letzten Gruß vom 5. Dezember 2007 und letzte „News” aus Juni 2008, Forum und Chat „demnächst”. Die eigene Fernsehsendung gibt es nicht mehr. Sie wollte dort Fragen stellen, doch es war wie immer: Am liebsten wollten die Zuschauer alles über Natascha Kampusch wissen. Ihr Versuch, ihrerseits die Herrschaft über die Kameras zu übernehmen, ist gescheitert. Es gibt von der Talkshow nur noch den Trailer: lila wie Lavendel.