Der 23. August 2006 war für sie der Tag der Freiheit. Seither sucht Natascha Kampusch den Weg in ihr eigenes Leben.Mit Freundschaft und Vertrauen tut sich die junge Frau noch schwer, ihr Entführer tut ihr nur noch leid
NATASCHA KAMPUSCHEIN JAHR DANACHEssen. Sie hat sich nicht viel verändert. Dieselben langen, blonden Haare, dasselbe langsame, leichte Wienerisch, derselbe, vielleicht etwas direkter gewordene Blick aus großen Augen: erstaunt, herausfordernd? Das ist Natascha Kampusch, wie die Welt glaubt, sie zu kennen, und das ist ihr Problem. Denn jeder weiß, wer sie ist, in Bus und Bahn und auf dem Bürgersteig, die Leute sprechen sie an, und sie sagt: Nicht alle tun das nett. Sie macht jetzt den Führerschein, schon damit sie ihnen entkommen kann.
Natascha Kampusch ist inzwischen 19 und ein wenig runder geworden in dem Jahr, seit sie aus dem Kellerverlies ihres Entführers entkam. Die Zeit der Mangel-Ernährung ist vorbei, damals bekam sie Herzprobleme davon, und der Kreislauf, sagt sie heute, plage sie noch immer. Sie sei viel krank, berichten Menschen, die sie besser kennen. Das ist nach achteinhalb gestohlenen Jahren, von denen noch immer keiner weiß, was in dieser Zeit genau geschah, auch ihre Seele: Natascha spricht von "Ängstlichkeit" und "Schreckmomenten", sie geht zur Psychotherapie und außerdem zum Bogenschießen. Das gibt ihr Ruhe und Kraft; "ich kann", sagt sie, "dabei meine Gedanken fokussieren".
Denn natürlich hat sie viel zu denken, und vor allem: zurück. Mit ihren Erinnerungen versucht die 19-Jährige "so gut wie möglich umzugehen und sie aufzuarbeiten". So wurde aus dem Mann, den sie vor einem Jahr "Verbrecher" nannte, "eine arme Seele". Wolfgang Priklopil, der sich mit der kleinen Natascha seine Frau fürs Leben stehlen wollte, habe " versucht, mich zu manipulieren, wie er mich gerne haben wollte". Ein "Ringkampf" sei das gewesen. Was er ihr damit angetan habe, verblasse zwar nicht, sei aber "weiter in die Ferne gerückt".
In einem Interview bestätigte Natascha nun, dass sie an Priklopils Sarg Abschied genommen habe. Eine "gewisse Genugtuung" sei dabei gewesen: "Es war immer klar, es konnte nur einen von uns beiden geben, und ich war das letztendlich und er nicht." Sie habe Bedauern dabei empfunden: "Er tut mir nach und nach immer mehr leid."
Aber ihr Entführer ist tot, und sein Opfer sucht noch nach einem eigenen Leben. Mit Privatunterricht versucht Natascha, ihren Schulabschluss nachzuholen, sie hat ihre eigene Wohnung, sie geht mit Bekannten in die Disko, kürzlich war sie mit einer der älteren Schwestern in Spanien, aber auch dort war ein Fernsehreporter mit dabei. Echte Freunde? Da muss sie einen Moment nachdenken: "Ich habe für mich noch nicht herausgefunden, wie man Freundschaft definiert." Auch mit dem Vertrauen tut sich Natascha Kampusch schwer. "Das ist so eine Sache. Es wird wohl noch lange dauern, bis ich irgendjemand vollkommen vertrauen kann."
Sie erzählt das alles, weil sie findet: "Ich schulde den Leuten, die Anteil an meinem Schicksal genommen haben, die für mich gespendet haben, dass ich berichte, wie es mir geht." Die ganze Wahrheit aber ist, dass Natascha Kampusch Geld verlangt für jede Antwort, die sie gibt. Drei Tage noch vor dem Jahrestag ihrer Flucht bestellte sie einen neuen Medienberater, den dritten inzwischen. Von kostenlosen Interviews, sagt der, "hat Frau Kampusch nichts". Dabei verurteilt sie ihre eigenen Eltern für deren Umgang mit den Medien. Über die Mutter, die kürzlich ein Buch veröffentlichte, sagt sie vor laufenden Kameras: "Ich würde anders handeln." Dem Vater wirft sie vor, er lasse sich "von materiellen Dingen beeindrucken" und mache es ihr dadurch schwer, "mich ins normale Leben zu integrieren".
Aber es ist eben wenig normal im Leben einer jungen Frau, deren Jugend ausgefallen ist. Neulich erschienen Bilder von ihr auf dem Boulevard, sie zeigten einen Mann an ihrer Seite, "sooo süß", fanden das die bunten Blätter. "So geschmacklos", findet das Natascha Kampusch. Sie mag solche Berichterstattung nicht, "ich bin kein Superstar". Sie will ernst genommen werden, ihre Geschichte soll ernst genommen werden und nicht vergessen. Einen Freund zu haben, gesteht sie allerdings, "das wär' schon schön. Aber es ist eben erfunden".
Wahr aber ist, dass Kampusch das Haus in Strasshof kaufen will, ihr eigenes Gefängnis. Seit dem Tag ihrer Flucht steht es leer, bis heute steht Priklopils Auto vor der Tür und auch der weiße Kastenwagen, in dem er Natascha verschleppte. Die möchte nun verhindern, dass eine Art "Disneyland" entsteht. Sie weiß, was sie will und was nicht, das war schon damals so, gleich nach ihrer Befreiung. Ist sie wirklich so stark, wie sie tut?
"Sie werden mich selten oder überhaupt gar nie in der Öffentlichkeit weinen sehen", hat sie im Fernsehen gesagt. "Das regle ich für mich privat."