Essen. Am 6. August 1945 warfen US-Soldaten die Atombome “Little Boy“ über Hiroshima ab. Zehntausende waren sofort tot. Zehn Tage später kapitulierte Japan.
Die Augenzeugen, die in den sieben Jahrzehnten nach dem Atombombenabwurf vom Tag von Hiroshima berichten konnten, haben die Explosion der ersten Atombombe nur aus mehreren Kilometern Entfernung erlebt. Denn 90 Prozent der Einwohner der Innenstadt starben unmittelbar bei dem Angriff. 45.000 Tote zählte man schon am Abend. Binnen vier Monaten haben 136.000 nicht überlebt. Heute, die Opfer der Spätfolgen der radioaktiven Strahlung eingeschlossen, werden es mehr als 200.000 Tote sein.
Sumiro Nakamura war Schülerin im Vorort Mihara. Kurz nach Unterrichtsbeginn am 6. August 1945 schaute sie aus dem Fenster. „Ich wunderte mich über das Leuchten“. Es sei „ein enormes Donnern“ gefolgt. Jenseits der Berge habe sich eine „große, pilzförmige Wolke aufgetürmt“.
Der deutsche Missionar Klaus Luhmer erlebte um 8.14 Uhr Ortszeit, vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, etwas, was er „nicht verstehen konnte“: Es erschien „greller als die Sonne, eine Art Halbkugel“. Eine heiße Welle fegte heran. Trümmer kamen vom Himmel. Und an diesem eigentlich wunderschönen Sommermorgen zogen schwarze Aschewolken auf, die ölig ausregneten.
Ab jetzt lief die Weltgeschichte anders
Die apokalyptischen Schilderung in solchen Berichten wird in ihrer Eindringlichkeit weit übertroffen von der Darstellung des menschlichen Leids, das die Atombombe mit dem Namen „Little Boy“ bewirkte: Das Leid der wenigen zunächst Überlebenden, die mit verbrannter Haut und ohne Haare herumliefen und deren Köpfe auf den doppelten Umfang angeschwollen waren. Ihre inneren Organe waren zerplatzt unter der Wirkung der Bombe. Ihre Kleidung hatte sich in die Haut gefressen. Viele der Schwerstverletzten wollten nur noch eines, bevor ihr Körper aufgab: „Misu“. Wasser.
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Zehn Tage später – nach einem zweiten Abwurf auf Nagasaki am 9. August, der noch einmal 65.000 Menschenleben forderte – kapitulierte das japanische Kaiserreich bedingungslos. Der 2. Weltkrieg im Pazifik war zu Ende. Amerikas neuer Präsident Harry S. Truman hatte dafür die nukleare Karte gezogen. Von jetzt an lief die Weltgeschichte anders. Die Ära der atomaren Supermächte begann.
War Hiroshima nur der gnadenlose Test für diese neue Weltordnung, dem Unschuldige geopfert werden mussten? War es die Demonstration der Sieger-Macht USA, mit der die Welt in Zukunft rechnen sollte – auch gegenüber dem Noch-Verbündeten Sowjetunion? Und warum zeigten die Amerikaner den japanischen Gegnern nicht die Wirkung der Waffe über unbewohntem Terrain? Die Frage nach der moralischen Verantwortung Washingtons steht seither im Raum.
Giftgaseinsatz als Alternative
Vielleicht aber gab das Motiv des möglichst schnellen Kriegsendes den Ausschlag. Denn mit dem Szenario eines Atombomben-Einsatzes als Finale des großen Völkerschlachtens haben auch die Achsenmächte Japan und Deutschland spekuliert. Nur konnten deren Wissenschaftler physikalisch nicht umsetzen, was den Amerikanern Mitte Juli 1945 gelungen war: Die Zündung des Versuchs-Sprengsatzes in Nevada. Als der deutsche Kernphysiker Werner Heisenberg in britischer Haft am Abend des 6. August von den Ereignissen in Hiroshima erfuhr, wollte er die eigene wissenschaftliche Niederlage nicht eingestehen: „Das ist nur ein Schwindel.“
Hiroshima - 70 Jahre später
Für Truman, so haben 1995 Thomas B. Allen und Norman Polmar in ihrem Standardwerk „Codename Downfall“ nach einer über das Informationsfreiheits-Gesetz erzwungenen Sichtung interner Dokumente der US-Regierung berichtet, gab es wegen der beharrlichen Kapitulations-Weigerung Japans nur eine ernsthafte Alternative zur Atomwaffe, um den Krieg zu beenden: Die Landung der Alliierten auf den japanischen Hauptinseln. Ein enormes militärisches Risiko. Um es zu mindern, hätte dies mit Unterstützung von Giftgas erfolgen müssen. Bomber, so fand das Autorenduo heraus, sollten nach den Plänen der Militärs 25 japanische Städte mit der Gaswaffe angreifen. Das würden fünf Millionen Menschen nicht überleben, errechneten die Washingtoner Planer zu der Zeit – einschließlich mehrerer hunderttausend US-Soldaten.
"Schrei und Gebet: Frieden für die Welt“
Tatsächlich war für alle kriegsführenden Mächte der geächtete Einsatz von Gift, wenn in den letzten Kampfmonaten auch immer mitgedacht und organisatorisch vorbereitet, ein Horrorszenario. Die Atombombe schien die „leichtere“ Option, die die Amerikaner nach Angaben ihres Projektchefs Leslie Groves auch für Deutschland vorgesehen hatten: Berlin sowie das Industriegebiet Mannheim/Ludwigshafen standen auf einer Liste der Ziele, die bei Truman-Vorgänger Roosevelt im Schreibtisch lag. Nur die Einnahme der Brücke von Remagen durch US-Einheiten im Frühjahr führte das Dritte Reich dann schneller ans Ende als erwartet – und bewahrte Deutschland möglicherweise vor einem nuklearen Fallout am Rhein.
Als Japans Regierung, im August 1945 zerrissen von einem Machtkampf zwischen uneinsichtigen Militärs und kaisertreuen Pragmatikern, auch 72 Stunden nach dem Inferno in Hiroshima nicht aufgeben wollte, befahl Truman den Nagasaki-Angriff. Sadako Moriyama von der medizinischen Fakultät der Stadt war mit der Explosion von „Fat Man“ ohnmächtig geworden. Als sie aufwachte, sah sie „zwei Wesen“ mit herunterhängenden Hautfetzen, „die wie große, hässliche Eidechsen aussahen und krächzende Laute von sich gaben“. Es waren Lehrer aus der Nachbarschaft. Sie ertrugen an diesem Tag, was alle Opfern künftiger Atomkriege würden ertragen müssen. Doch dazu ist dann auch in 40 Jahren des Kalten Krieges nicht gekommen. Drei Sätze auf einem Gedenkstein in Hiroshima erhoffen, dass es so bleibt: „Das ist unser Schrei und Gebet: Frieden für die Welt“.