Selma. Ohne Selma, wo am Samstag genau vor 50 Jahren Geschichte geschrieben wurde, wäre Obama nicht Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika geworden.

Der Wahlkämpfer Barack Obama hatte noch jede Menge Yes-We-Can-Illusionen und keine grauen Haare, als er vor acht Jahren an der hässlichen Brücke stand, die sich in Selma über den träge und braun dahin fließenden Alabama River spannt, und sich mit einem Kloß im Hals vor der Geschichte verneigte. „Ich bin hier, weil ihr alle euch geopfert habt für mich“, sagte der Mann, der im Jahr darauf als erster Afro-Amerikaner ins Weiße Haus einziehen sollte, „ich stehe auf den Schultern von Giganten.“

Giganten, das waren für Obama 600 Männer, Frauen, Rentner, Jugendliche und Kinder um den Bürgerrechtler Dr. Martin Luther King, die am 7. März 1965 an der Edmund Pettus-Brücke friedlich gegen die Schikanierung von Schwarzen an der Wahlurne durch den Bundesstaat Alabama protestieren wollten. Brutale Gewalt einer entfesselten Polizei, bezwingend nachgestellt im Hollywood-Film "Selma", war ihr Lohn. Weil das Fernsehen die Bilder vom „Blutsonntag“ in jedes Wohnzimmer brachte und Amerika in ungeahnte Wallung geriet, machte Präsident Lyndon B. Johnson dem Kongress Beine. Fünf Monate später bekam das Herzstück der Bürgerrechtsbewegung, der „Voting Rights Act“, Gesetzeskraft. Wahlrecht für alle!

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50 Jahre danach wird Barack Obama am Samstag, 7. März, wieder auf Selma blicken und an der Edmund Pettus-Brücke im Beisein Vorgänger George W. Bush und Tausenden Gästen aus dem ganzen Land mit Kloß im Hals den „Giganten“ von damals gedenken. Es ist gewissermaßen der Geburtsort seiner Präsidentschaft. „Ohne die Brücke von Selma“, sagt John Lewis, einer, dem die Polizei damals fast den Schädel zertrümmert hätte und der heute Kongress-Abgeordneter der Demokraten ist, „wäre Obama wohl nie so weit gekommen.“

Nur Selma tritt noch immer auf der Stelle.

Wer die Broad Street hinunterläuft, vorbei an verwaisten Ladenlokalen, zwischen denen das gediegene Juwelier-Geschäft Butler Truax fast wie ein Fremdkörper wirkt, spürt Stillstand und Verfall. Gay Talese sagt, die Zeit sei wie eingefroren hier. Als junger Berichterstatter für die New York Times war er am „Bloody Sunday“ vor Ort. Als Literat der Reporter-Zunft kehrte er jetzt zurück. Um festzustellen, was die Festredner ausblenden werden: Selma ist trotz aller Historie ein besiegter Ort geblieben.

Selma als "Alabamas Dritte Welt"

Dallas County, in dem die Stadt liegt, ist der ärmste Bezirk in ganz Alabama. 40 Prozent der Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit liegt mit über zehn Prozent doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Fünf Mal häufiger als sonst wo im Bundesstaat hat es die Polizei mit Gewaltverbrechen zu tun. „The Birmingham News“, das Lokalblatt aus der Nachbarstadt, nannte Selma abschätzig „Alabamas Dritte Welt“.

Ökonomisch leidet der Ort noch immer unter der Schließung des Luftwaffen-Stützpunkts Craig, der bis Ende der 70er-Jahre mit 2500 Beschäftigten jährlich fünf Millionen Dollar in den Wirtschaftskreislauf pumpte. Ersatz kam nie. Mit dem Militär gingen die Menschen. Die Bevölkerung nahm von 28.500 auf heute 19.000 ab. Über 80 Prozent sind Schwarze. Seit langem.

Auf den ersten schwarzen Bürgermeister, James Perkins, musste Selma gleichwohl 35 Jahre warten. Zu mächtig waren die alten Netzwerke der Weißen, zu groß die „verschwiegenen Widerstände“, wie es in der Lokalzeitung „Selma Times-Journal“ einmal stand. Erst 1989 schwor Alabamas erster schwarzer Bundesrichter, U.W. Clemon, die ersten drei schwarzen Stadt-Manager ins Amt ein. Ein Jahr später sorgte der Rausschmiss des schwarzen Schul-Dezernenten für einen Effekt, von dem sich die High School von Selma bis heute nicht erholt hat. Nach fünftägigem Streik und Einsatz der Nationalgarde zogen 600 weiße Eltern ihre Kinder aus der Schule ab. Heute ist die Lehranstalt zu 99 Prozent schwarz und die Abrecherquote so hoch wie nirgends sonst in Alabama. Rassentrennung funktioniert auch ohne Gesetz.

Rassismus in den Köpfen

Wie der Rassismus in den Köpfen. Es ist kein Zufall, dass die legendäre Brücke, auf der alles geschah, nicht längst umbenannt ist. Edmund Pettus war ein Südstaaten-General. Als der Unabhängigkeitskrieg vorbei war, wurde er zu einem führenden Kopf des Ku-Klux-Klan. Jenem weißen, auf Rassenhass gründenden Bund, der für Lynchmorde und Brandschatzungen verantwortlich war. Pettus‘ früherem Mistreiter General Nathan Bedford Forrest, später auch im Führungszirkel der Kapuzenmänner gelandet, wollen manche in Selma noch heute ein Denkmal bauen.

„Die Pläne gibt es wirklich“, sagt Sam Walker und verzieht den beinahe zahnlosen Mund. Sam Walker war elf Jahre alt, als Selmas Sheriff Jim Clark am 7. September 1965 auf Geheiß von Gouverneur George Wallace mit seinen Schlägern in Uniform das Tor zur Hölle öffnete. Heute verwaltet Clark in einem kleinen schäbigen Museum einen Steinwurf von der Brücke entfernt den Nachlass der protestierenden „Fußsoldaten“ von damals, die gegen die Diskriminierung aufbegehrten. James: „Was hier geschah, hat unsere Welt für immer verändert.“

7. September 1965 - Gewalt beim Protestmarsch 

Aus vereinzelten Boykotten erwuchs 1965 organisierter Aufstand. Mit Demonstrationen, Prozessen, Blockaden und zivilem Ungehorsam suchten lokale schwarzen Aktivisten nach überregionaler Aufmerksamkeit. Durch Martin Luther King, der in Alabamas Haupstadt Montgomery als Prediger angefangen hatte, bekam die Bewegung ab dem 18. Februar prominente Beihilfe. Im benachbarten Marion hatte Polizei-Übergriffigkeit zum Tod von Jimmie Lee Jackson führte. Der schwarze Teenager wollte seinen von blindwütigen State-Troopern misshandelten Großvater beschützen, als ihn zwei Polizeikugeln in den Bauch trafen. ML King lenkte Wut und Resignation in Bahnen.

Sein Credo: Wer die institutionelle Willkür auflösen, im geschilderten Fall den Rauswurf des verantwortlichen Polizeichefs betreiben will, der muss jenes Grundrecht ausüben dürfen, dass den Schwarzen auch 100 Jahre nach Aufhebung der Sklaverei damals beharrlich verweigert wurde: das Wahlrecht. Anfang der 60er-Jahre war nicht einmal jeder dritte Schwarze im Süden als Wähler registriert, in Selma nur jeder hundertste. Wer seine Stimme abgeben wollte, musste einen Test bestehen, dessen Unverschämtheit legendär ist. „Wie viele Wattebäusche passen in ein Einmachglas? lautet einer der Standardfragen, „Wie viele Luftblasen kommen aus einem Stück Seife?“ eine andere.

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Szenen wie aus dem Bürgerkrieg

Am 7. September 1965 suchen King und die erstarkte Bürgerrechtsbewegung die Konfrontation. Mit einem Protestmarsch auf Alabamas Hauptstadt Montgomery wollen sie dem Verlangen nach Einlösung des in der „Bill of Rights" niedergelegten Versprechens von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit Nachdruck verleihen. Sheriff Clark blockiert die Brücke mit berittenen Nationalgardisten. Als der Demonstrationszug eine Barriere erreicht, feuern die Soldaten Tränengas-Granaten, prügeln wahllos Frauen und Kinder nieder. 50 Menschen werden teilweise schwer verletzt.

Der Fernsehsender ABC unterbricht sein Programm für die Aufnahmen aus Selma. Es sieht aus wie im Bürgerkrieg. Am nächsten Tag machen sich Hunderte Menschen überall in den USA auf den Weg nach Alabama. Sie wollen ihre Solidarität mit den Demonstranten zeigen. Gouverneur Wallace verlangt Beistand von Washington gegen die „Aufrührer“. Und blitzt ab. Am 15. März kündigt Präsident Lyndon B. Johnson die ersehnte Wahlrechtsreform an. In seiner Rede, die 70 Millionen Amerikaner am Fernseher verfolgen, macht er sich ML Kings Slogan zu eigen: „We shall overcome.“ Am 21. März marschieren tatsächlich Hunderte die 80 Kilometer lange Strecke nach Montgomery. Vor dem Parlament an der Dexter Avenue hören 25.000 gebannt zu, als King den Durchbruch verkündet. „Die Rassentrennung liegt auf dem Sterbebett.“

Nur richtig tot ist sie immer noch nicht. Auch wenn den noch lebenden Fußsoldaten der historischen Märsche bald die „Congressional Gold Medal“ überreicht wird. Die höchste Auszeichnung, die das Parlament zu verleihen hat, reicht Terri Sewell bei weitem nicht. Alabamas erste schwarze Abgeordnete in Washington, zwei Wochen vor den Unruhen im März 1965 in Selma geboren, sieht die Errungenschaften von damals bedroht. Der Oberste Gerichtshof hat vor einiger Zeit die Rassismus-Schutzklausel aus dem Wahlrecht entfernt. „Wähler aus gesellschaftlichen Minderheiten zu diskriminieren, kann damit wieder hoffähig werden“, fürchtet Sewell, „die alten Schlachten sind wieder aktuell. Wir müssen Selma endlich richtig leben.“

Der Kampf der Giganten, er geht weiter.