Berlin. Vor 50 Jahren sprach Martin Luther King beim “Marsch auf Washington“. Was John Lewis, der letzte lebende Redner vom 28. August 1963, über das Erbe des legendären schwarzen Bürgerrechtlers und Pastors denkt: Barack Obamas Präsidentschaft begreift er noch nicht als Erfüllung des King'schen Traums.
Sein kahler Schädel zeigt noch immer die vernarbten Wunden von Selma. Am 7. März 1965 wurde John Lewis auf der Brücke, die von der Kleinstadt in Alabama nach Montgomery führt, bei einem Protestmarsch von weißen Polizisten niedergeknüppelt. Zwei Jahre zuvor war der Sohn einer zwölfköpfigen Baumwollpflücker-Familie aus Troy/Alabama der jüngste und energischste Wortführer bei einem Ereignis, das in Amerikas Geschichte eingegangen ist: der Auftritt des jungen Pastors Martin Luther King am 28. August 1963 auf den Stufen des Lincoln Memorial in Washington. 250.000 Menschen hörten damals das magisch verheißungsvolle „I have a dream“, die rhetorische Gründungs-Urkunde der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.
Der Marsch hat Amerika verändert
Ihren Urknall hatte sie 1955, als die mutige Schwarze Rosa Parks sich weigerte, ihren Sitzplatz in einem Bus einem Weißen zu überlassen. John Lewis, einst enger Wegbegleiter Kings und heute ein verehrter demokratischer Kongressabgeordneter für die Menschen von Atlanta/Georgia, ist der letzte noch lebende Redner von Washington. Er hat Geschichte gelebt. Und gemacht. Wer ihn hört 50 Jahre danach, versteht besser, warum der 73-Jährige die Präsidentschaft von Barack Obama beileibe nicht als Erfüllung des King‘schen Traums begreift. Sondern allenfalls als „Anzahlung“.
„Der Marsch auf Washington 1963 hat Amerika für immer verändert. Aber während der Feiern dürfen wir nicht nachlassen, den Kongress zu zwingen, das Land fairer und gerechter zu machen“, sagte er im Interview.
Wahlrecht für Schwarze
Dass Lewis, der stets höflich spricht und auch politische Gegner mit Samthandschuhen anfasst, dabei an das jüngste Urteil des Obersten Gerichtshofes denkt, liegt nahe. Wenige Tage nach Selma, trotzte die Bürgerrechtsbewegung dem damaligen Präsidenten Lyndon B. Johnson den „Voting Rights Act“ ab. Ein Gesetz, das den Schwarzen im amerikanischen Süden das volle Wahlrecht garantieren sollte. Ein Passus darin besagt, dass die Zentralregierung in Washington eine Schiedsrichter-Funktion besitzt, wenn Minderheiten mit Tricks vom Urnengang ferngehalten werden sollten. Mit der Begründung, es gebe keinen staatlich organisierten Rassismus mehr, kippte der Supreme Court in Washington vor wenigen Wochen mit knapper Mehrheit das Gesetz.
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Wie Lewis, so halten auch viele andere Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung die Entscheidung mit Blick auf die Wirklichkeit für „befremdlich“. Mehrere Bundesstaaten, meist im Süden gelegen und von Republikanern regiert, hatten vor der Präsidentenwahl 2012 Gesetze verabschiedet, die Schwarzen und anderen ethnischen Minderheiten (die oft demokratisch wählen) das Wahlrecht de facto abspenstig macht. Wissend, dass unter Afroamerikanern und in ärmeren Bevölkerungsschichten Ausweisdokumente kaum verbreitet sind, wurde vor dem Wahlgang ein Pass mit Bild verlangt. Justizminister Eric Holder stellt diese Sonderwege auf den Prüfstand, aber sie existieren.
Einer grundlegenden Korrektur sieht Lewis skeptisch entgegen. „Was die Bürgerrechte angeht, besteht heute zu weniger Hoffnung und Optimismus Anlass als vor fünf Jahrzehnten.“ Als Grund gibt der jüngst unter die Comic-Buch-Autoren gegangene Politiker die Blockadehaltung im Kongress an. Auch darum sei der Erfolg von Obama, der „hart für eine fairere Gesellschaft arbeitet“, bisher begrenzt geblieben.
Lewis ging 40-mal ins Gefängnis
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Vor 50 Jahren hatte John Lewis im Schatten des Lincoln-Denkmals kurz vor Martin Luther King von einer „großen Revolution“ gesprochen, die solange durch das Land ziehen werde – „bis wirkliche Freiheit kommt“. Für seine Überzeugungen ging der Bürgerrechtler über 40-mal wegen zivilen Ungehorsams ins Gefängnis, viermal allein in seiner Eigenschaft als Parlamentsangehöriger. Sein Lebenswerk ist noch nicht vollbracht. „Wir müssen uns den Hunderttausenden zuwenden, die in diesem Land vernachlässigt und zurückgelassen werden. Wir müssen in Bildung investieren. Und in Arbeitsplätze.“
Martin Luther King, zu dessen Ehren am 50. Jahrestag seiner Jahrhundert-Ansprache sich gleich drei Präsidenten die Ehre geben (Carter, Clinton, Obama), wurde am 4. April 1968 vor Zimmer 306 des schmucklosen Lorraine-Hotels in Memphis von dem weißen Kleinkriminellen James Earl Ray erschossen. John Lewis, sein Freund, lebt. Am 28. August wird er wieder das Wort ergreifen. „Es gibt noch so viel zu tun.“