Kiew. Der ukrainische Regierungschef spricht von einem “Unfall“ in einem Atomkraftwerk - und weckt Erinnerungen an Tschernobyl. Der Energieminister beschwichtigt.
Rätselraten herrscht über die genauen Umstände und Ursachen der Vorgänge in dem ukrainischen Atomkraftwerk Saporoshje. Ministerpräsident Arseni Jazenjuk sprach zunächst von einem „Atomunfall“ mit unabsehbaren Folgen. Andere Quellen sprachen von einer Panne, einem Störfall oder technischen Problemen. Radioaktivität sei nicht ausgetreten, versicherten die ukrainischen Behörden rasch.
Saporoshje gilt mit sechs Reaktorblöcken, die jeweils 1000 Megawatt Leistung liefern, als die größte Atomanlage Europas. Der älteste Block ging 1984 ans Netz, der jüngste 1995. Rund 44 Prozent ihres Strombedarfs deckt die Ukraine über ihre insgesamt 15 Atomkraftwerke.
Erinnerung an Tschernobyl 1986
Sicher ist offenbar, dass ein Reaktorblock des Kraftwerks nach einer „technischen Panne“ in der vergangenen Woche abgeschaltet worden war. Nach Informationen des Bundesinnenministeriums gab es einen Brand in einem nicht-nuklearen Teil der Anlage. Diese sei daraufhin bereits am 28. November heruntergefahren worden. Energieminister Wolodimir Demtschischin sagte gestern in Kiew, von dem „Zwischenfall“ gehe keine Gefahr aus, es gebe „keine Probleme mit den Reaktoren“. Nach Medienberichten kam es in der Folge zu größeren Stromausfällen in mehreren Orten.
Obwohl bislang über größere Schäden oder Auswirkungen wenig bekannt wurde, ist die Aufregung um die Vorfälle groß, nicht nur in der Ukraine, auch in den Nachbarstaaten und im Westen. Und das hat zwei Gründe. Der erste ist die immer noch wache Erinnerung an die verheerende Atomkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986.
200 Kilometer bis zur Kampfzone
Eine gewaltige Explosion blies eine gigantische Strahlenwolke in die Atmosphäre. Der radioaktive Niederschlag kontaminierte große Gebiete in der Ukraine, in Weißrussland und dem Westen Russlands sowie in einigen Ländern Europas. Hunderttausende Menschen wurden hohen Strahlenbelastungen ausgesetzt, viele leiden noch unter den Folgen. Bis heute ist die eingesargte Betonruine ein strahlendes Mahnmal, das an die Katastrophe erinnert.
Der zweite Grund für die Aufregung ist weit aktueller: Oberhausens Partnerstadt Saporoshje liegt im Südosten des Landes und damit nur rund 200 Kilometer von den umkämpften Gebieten entfernt. Kämpfe im Umkreis von Atomkraftwerken stellen ein völlig neues Bedrohungs-Szenario für die nukleare Sicherheit dar. Schon vor Monaten hatte die Regierung in Kiew die Internationale Atomenergiebehörde vor möglichen Folgen bewaffneter Aktionen gegen Atomanlagen gewarnt. Zwar werden die Kraftwerke bewacht und es gilt erhöhte Alarmbereitschaft, doch völlige Sicherheit gibt es nicht.
Verwundbare Technik
Viele panzerbrechende Waffen sind in der Kampfzone im Umlauf, Raketen und schwere Artillerie. War die Panne in dem Kraftwerk womöglich die Folge eines Sabotageakts? Nach dem Abschuss der Passagiermaschine im Juli über der Ostukraine mit knapp 300 Toten scheint kein Szenario mehr auszuschließen zu sein.
Die Betonhülle der Reaktoren ist nach Angaben von Experten nur etwa 1,20 Meter dick. „Kein Reaktor in einem Kriegsgebiet ist vor Beschuss geschützt und sicher“, sagte Tobias Münchmeyer, Atomexperte von Greenpeace, dieser Zeitung. Auch ein Angriff auf die Stromversorgung oder das Netz könne durch den Ausfall der Kühlung verheerende Folgen haben, wie Fukushima zeigte. Zudem lagern in Saporoschje mehr als 100 Spezialbehälter mit abgebrannten Brennelementen ungeschützt im Freien.