London. Besuch in den “Royal Mews“, in denen seit 1825 die Kutschen und Pferde der Königin versorgt und trainiert werden. Dabei sind die Hofstallungen alles andere als ein Museum: Das lebend und Inventar kommt täglich zum Einsatz.
Es ist ein unscheinbarer Torbogen aus Stein, an dem sich der Millionenverkehr der Metropole entlang quält. Wer ihn durchschreitet, tritt ein in eine Ära, in der eine Goldkutsche so viel galt wie heute der Ferrari. Fast 200 Jahre lang ist in den „Royal Mews“, den Hofstallungen des Buckingham Palastes, alles beim Alten geblieben. Auch im Jahr 2011 wird hier noch gestriegelt, gewiehert – und gewohnt. Ein Rundgang.
Dicke Mauern dämpfen die Motorengeräusche von draußen, hier, im Hof des vielleicht feinsten Pferdestalls Europas, schätzt man ein anderes Tempo, eine andere Art der Fortbewegung. Vier Beine, ein wohltemperiertes Gemüt und blaue Samtpolster kommen der Philosophie der „Royal Mews“ am nahesten. Dies hier ist kein Museum – Besucher, die um den Nebeneingang des Palastes wissen, betreten vielmehr eine lebendige, arbeitende Abteilung des Königlichen Haushaltes.
Der Tagesablauf ist seit 1825 unverändert
Von Hand wird im Hof gerade die Australische Staatskutsche verladen. Sie kommt vom Schloss Windsor, wo der Emir von Qatar die Königin besucht. Für die zehn „Windsor Greys“, die liebsten Kutschpferde der Queen, ist dies eine wichtige „Dienstreise“: Sie führen bei Staatsbesuchen wie diesem stets dekorativ die Parade an. Das ganze Jahr über ist der Terminkalender der königlichen Rösser dicht gedrängt: Im Frühjahr laufen sie in Ascot auf, im Herbst fahren sie zur Parlamentseröffnung zum Oberhaus – im Schlepptau die Queen, den Prinzgemahl, nur die Krone auf einem Kissen oder, im langweiligsten Fall, die Post, die täglich vom Palast zum St. James’s Square transportiert werden muss.
38 Kutscher, Handwerker und Stallburschen leben direkt über den Stallungen – gewandet in rote, gold-beknöpfte Uniformen, mitten in London, und doch losgelöst vom Takt der Stadt. „Die Pferde brauchen rund um die Uhr Aufmerksamkeit“, sagt Sarah Goldsmith, Mitarbeiterin des Königlichen Haushaltes, „sie müssen auch theoretisch jederzeit einsetzbar sein.“ Manche, wie der Restaurator Martin Oates, arbeiten schon in der vierten Familiengeneration für den historischen Fuhrpark. Am Tagesablauf des Teams hat sich seit dem Jahr 1825, als die „Mews“, einst Verschläge für kostbare Jagdfalken während ihrer Mauser, von Charing Cross in den Palastgarten zogen, nichts verändert.
15 Jahre lang Training
Morgens um 6 Uhr beginnt der Tag für die Bediensteten: Sie misten Boxen aus, putzen die fast 40 Tiere und wärmen sie auf. Danach beginnt für alle Zwei- und Vierbeiner Ihrer Majestät das Training. In der Reithalle werden die Pferde allen Eindrücken ausgesetzt, die sie bei Auftritten vor großem Publikum zu bewältigen haben: wehende Flaggen, Blitzlichtgewitter, Orchesterlärm, Gebrüll, Betrunkene oder Ohnmächtige, die ihnen vor die Hufe fallen. Selbst Schüsse dürfen sie nicht irritieren. Mit vier Jahren kommen die nach Optik und Temperament ausgewählten Tiere zum Palast, 15 Jahre lang lernen und arbeiten sie für die prominente Dienstherrin. Als Pferdenärrin lässt Elizabeth II. sich die persönliche Inspektion der Hofstallungen übrigens nicht entgehen: Zwei Mal im Jahr schaut sie höchstpersönlich nach dem Rechten.
Auch die Kutscher üben täglich, um peinliche Bauchlandungen zu vermeiden. Nimmt die Königin die Schottische Staatskutsche, so müssen Begleiter ihr die Tür öffnen, denn Griffe an der Innenseite fehlen. Timing ist in diesem Fall alles: Die livrierten Herren schwingen sich in voller Fahrt von der Hinterachse über einen kleinen, güldenen Fußsteig zu Boden und stehen hoffentlich parat, wenn das historische Gefährt hält. Neidisch auf die benachbarten Rolls-Royce-Chauffeure ist der exklusive Stallzirkel trotz der Leibesübung nicht.
Zwischen Mistgabeln, Scheuklappen und Ledergeschirren verwalten die Stallmeister immerhin ein großes, historisches Erbe. Alle Kutschen des Königlichen Haushaltes sind in den „Royal Mews“ zu sehen, darunter die Hochzeitskutsche von Diana und Charles und die aktuelle Lieblingskutsche der Queen mit Zentralheizung und elektrischen Fensterhebern. Die bemalten, in Form geschnitzten Unikate des radio- und fernsehfreien 18. und 19. Jahrhunderts gleichen noch heute Litfass-Säulen voller politischer Botschaften. Im Stall hilft man gern, die Kutschen „zu lesen“, erklärt, warum frühere Herrscher mit güldenen Disteln oder indischen Palmen durch die Weltgeschichte kutschiert werden wollten. Oder dass vergangene Könige ihre geliebten weißen Pferde gegen schwarze austauschten, weil man sich schon in der Fellfarbe von Napoleon distanzieren wollte.
Eine Staatskutsche mit vier Tonnen Gewicht
Heute sind die Pferde kein Politikum mehr, aber an den Relikten dieses einst so mächtigen Königreiches schleppen sie weiter schwer. Die „Golden State Coach“, teuerste und berühmteste Kutsche der Welt, hat 2012 seinen nächsten großen Auftritt. Acht Pferde der „Royal Mews“ werden das Prunkstück zum 60. Thronjubiläum der Königin ziehen. Vier Tonnen wiegt es – so viel wie zwei rote Doppeldecker-Busse. Schon jetzt üben die Tiere im Hof mit Sandsäcken für ihren Auftritt, trainieren sich Muskeln und Ausdauer an.
Kurz vor dem Jubiläum wird dann die Außenwand des Stalls eingerissen, um das goldene Ungetüm überhaupt in den Hof manövrieren und die Pferde einspannen zu können. Wer sich wundert, warum Elizabeth dann selbst an einem solchen Jubeltag in der 24-Karat-Goldkutsche eine säuerliche Miene macht, der möge sich an das Expertenwissen der Stallmeister in den Mews erinnern: Das Gefährt, verraten sie, schaukelt so sehr, dass selbst Navy-Offiziere darin seekrank werden.