Kairo. . Die Wut auf die Regierung treibt über eine Million Ägypter auf die Straße. Sie wollen den Rücktritt Mubaraks. Doch der will noch bis zu den nächsten Wahlen im Amt bleiben und kündigt Reformen an.

Mehr als eine Million Ägypter haben mit landesweiten Protesten den Rücktritt des zunehmend isolierten Präsidenten Husni Mubarak gefordert. Es waren die größten Demonstrationen in der modernen Geschichte des arabischen Landes.

Mubarak ist jedoch weiter nicht zum Rücktritt bereit. Der seit 30 Jahren autokratisch herrschende Präsident erklärte in einer Rede, er werde bei der im September anstehenden Präsidentenwahl nicht erneut kandidieren. Bis dahin wolle er aber an der Macht bleiben und die Forderungen nach größerer Demokratisierung umsetzen. Die kommenden Monate werde er sich für einen "friedlichen Übergang der Macht" einsetzen. Er kündigte Verfassungsreformen an. Veränderungen solle es bei der Amtszeit des Präsidenten und der Zahl der zugelassenen Kandidaten geben.

Er habe "unabhängig von den aktuellen Umständen" niemals die Absicht gehabt, erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren, erklärte Mubarak. Zugleich lehnte er es ab, ins Exil zu gehen. Er werde in seiner Heimat sterben, sagte der 82-Jährige.

US-Präsident Barack Obama soll Mubarak aufgerufen haben, sich nicht erneut zur Wahl zu stellen. Wie die Zeitung "New York Times" am Dienstag unter Berufung auf Diplomaten berichtete, habe der frühere US-Botschafter in Kairo, Frank Wisner, am Montag eine entsprechende Nachricht Obamas überbracht. Demnach war die Botschaft keine direkte Aufforderung zum Rücktritt. Mubarak sei jedoch nahegelegt worden, den Weg für Reformen frei zu machen und im September faire und freie Wahlen zu ermöglichen, um einen neuen Staatschef zu bestimmen.

Militär hält sich zurück

Allein im Zentrum Kairos kamen am Dienstag mehr als 200.000 Menschen aus allen Bevölkerungsschichten zusammen. Das Militär, bislang die wichtigste Säule im Machtapparat Mubaraks, hielt sich demonstrativ zurück. Zwar errichteten die Soldaten auf dem zentralen Tahrir-Platz Stacheldrahtbarrikaden, aber anders als die Polizei am vergangenen Freitag griffen sie nicht ein, als immer mehr Demonstranten am Dienstag auf den Platz strömten und ihrem Ärger auf den 82-Jährigen sowie wegen Korruption, Misswirtschaft und jahrzehntelanger Unterdrückung Luft machten.

Auch in anderen Großstädten wie Alexandria und Suez folgten Zehntausende dem Aufruf der Opposition zum "Marsch der Million". Mit Sprechchören wie "Hau ab, hau ab, Revolution überall" oder "Wach auf, heute ist Dein letzter Tag" forderten sie ein Ende der seit 30 Jahren währenden Ära Mubarak.

Solidarität mit den Ägyptern

In aller Welt solidarisierten sich Menschen mit den ägyptischen Demostranten: Unter anderem in Düsseldorf zogen rund 100 Menschen lautstark durch die Altstadt und forderten das Ausland auf, sich auf die Seite des ägyptischen Volkes zu stellen. „Wir brauchen auch die Stimmen der EU und der USA, um Mubarak loszuwerden“, sagte der gebürtige Ägypter Mohammed Habbas, der seit sechs Jahren in Paderborn Mechatronik studiert. „Aber sie wollen uns nicht unterstützen.“

Derweil werde die Situation in Ägypten immer gefährlicher. Im Gegensatz zu europäischen Medien werde im ägyptischen Fernsehen bereits von 300 Toten berichtet, die während der Proteste ums Leben gekommen seien, sagte Abdel Nasser Zaky, stellvertretender Vorsitzender des Ägyptischen Clubs Düsseldorf. „In Alexandria gibt es so viele Leichen, dass man nicht mehr weiß, wo man sie lagern soll. Deshalb liegen sie auf der Straße.“

Druck auf Mubarak wächst

Viele Menschen in Kairo hatten bereits die ganze Nacht auf dem Tahrir-Platz ausgeharrt. Zumindest teilweise von den Vorgängen in Tunesien inspiriert, wo der Präsident nach wochenlangen Protesten vor seinem Volk floh, machen die Ägypter seit gut einer Woche ihrem Unmut Luft. Mit einer als halbherzig empfundenen Regierungsumbildung oder den vom neuen Vize-Präsidenten Omar Suleiman in Aussicht gestellten Zugeständnissen wie eine Verfassungsreform wollen sie sich nicht abspeisen lassen. "Wir akzeptieren von Mubarak nichts anderes, als dass er sich in ein Flugzeug setzt und verschwindet", sagte ein Demonstrant.

Der Wortführer der Opposition, Mohamed ElBaradei, forderte Mubarak auf, das Land zu verlassen. "Es kann einen Dialog geben", sagte der Friedensnobelpreisträger im Fernsehsender Al-Arabija. Das sei aber nur möglich, wenn die Forderungen des Volkes erfüllt seien. Die erste Forderung laute, dass Mubarak zurücktrete. "Wenn Präsident Mubarak geht, dann wird alles korrekt laufen." Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan riet Mubarak, auf die Forderungen der Bevölkerung zu hören. Die politischen Probleme müssten mit Wahlen gelöst werden.

Reiseveranstalter sagen Reisen ab

Experten räumen Mubarak kaum noch Chancen auf einen Machterhalt ein. Es gehe jetzt darum, dem Staatschef einen Abgang zu ermöglichen, bei dem dieser sein Gesicht wahren könne, sagte etwa Steven Cook vom renommierten Council on Foreign Relations. Den vermutlich entscheidenden Stoß bekam Mubarak von seinen Generälen versetzt, die am Montag klargemacht hatten, dass sie keine Gewalt gegen friedliche Demonstranten einsetzen würden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte während eines Israel-Besuchs, es sei ein wichtiges Signal gewesen, "dass die Armee gesagt hat, es ist ein Recht der Menschen zu demonstrieren". Trotzdem sei damit eine Unbestimmtheit verbunden, wie der politische Prozess in Ägypten weitergehen werde. "Wir können nur hoffen, dass all das wirklich friedlich verlaufen wird."

Es wird befürchtet, dass radikal-islamische Gruppierungen an die Macht kommen könnten. Der Autokrat Mubarak hat sich im Westen erfolgreich als Bollwerk gegen Islamisten verkauft. Doch im Zuge der seit einer Woche anhaltenden Proteste treten nun oppositionelle Gruppen zunehmend selbstbewusster auf, etwa die Muslimbrüder, die zwar in den 50er Jahren der Gewalt abschworen, aber unverändert antiisraelisch und antiamerikanisch sind.

Ihren Reisehinweis verschärfte die Bundesregierung angesichts der Entwicklung in Ägypten abermals. "Das Auswärtige Amt rät von Reisen nach ganz Ägypten dringend ab", sagte Außenminister Guido Westerwelle in Berlin. "Das schließt ausdrücklich die Touristengebiete am Roten Meer ein." Die größten deutschen Reiseveranstalter kündigten daraufhin am Dienstag an, bis einschließlich 14. Februar würden sie keine Reisen nach Ägypten mehr anbieten.

Klage über politische Gefühlskälte in der Ägypten-Krise

Der Chef der Europa-Fraktion der SPD, Martin Schulz, ist unterdessen irritiert über das unterkühlte Management in der Ägypten-Krise. "Ich wundere mich, dass die politische Klasse in Europa nicht in der Lage ist, sich über die Freiheitsbewegung in Ägypten einfach zu freuen", sagte der SPD-Politiker gegenüber DerWesten. "Überall hört man von großer Sorge, nirgendwo von großer Freude", fügte er hinzu. Der Westen drohe den gleichen Fehler wie beim Zusammenbruch des Ostblocks zu machen, so Schulz. "Weil wir immer nur in geostrategischen Kategorien denken, werden wir zu außenpolitischen Technokraten. Ein bisschen mehr Emphase täte uns allen gut", klagte er.

Ägypten offline

Der letzte der größeren Internet-Anbieter in Ägypten, die Noor-Gruppe, ist seit dem späten Montagabend offline. Wie der Chef der Sicherheitsfirma Renesys, James Cowie, mitteilte, ist die Noor-Gruppe seit 23 Uhr ägyptischer Zeit nicht mehr erreichbar.

Die Noor Group war nach der Abschaltung der vier größten Online-Anbieter Lin Egypt, Vodafone/Raya, Telecom Egypt und Etissalat Misr am vergangenen Freitag der letzte verbliebene aktive größere Internetanbieter in Ägypten. Renesys hat sich auf die Überwachung des Internetverkehrs spezialisiert. Cowie sagte, die Systemdateien für den Web-Verkehr der Noor-Gruppe seien verschwunden. Dies sei ein relativ einfacher Vorgang, weil Techniker nur eine Konfigurationsdatei auf bestimmten Computern ändern müssten. Auf diese Weise sei auch der Internet-Blackout am Freitag in gerade mal 20 Minuten bewerkstelligt worden.

Twittern per Anruf

Um die Kommunikationsbarriere zu umgehen, will der US-Konzern Google in Ägypten ein Zusatzangebot machen: Das Unternehmen wolle es ermöglichen, per Telefonanruf zu twittern, teilte der Internetgigant am Montag auf seinem Firmenblog mit. Die Nachricht müsse als Voicemail bei drei eigens für diesen Service eingerichteten Rufnummern hinterlassen werden. Die Informationen würden dann mit der Markierung „egypt“ bei Twitter veröffentlicht. Eine Internet-Verbindung sei dafür nicht notwendig. Der Dienst sei zusammen mit Experten von Twitter entwickelt worden.

Privatpersonen, Organisationen, Unternehmen und Massenmedien nutzen Twitter als Plattform zur Verbreitung von Nachrichten. Soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook dienen den Demonstranten in Ägypten als wichtiges Kommunikationsmittel zur Organisation ihrer Proteste. (rtr/afp/dapd/rm)