Berlin. Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen und einer der neuen Vordenker des Realo-Flügels der Grünen plädiert für einen Abschied vom Lagerdenken: Wichtig sei nur, in welchen Konstellationen sich grüne Positionen durchsetzen lassen - und das geht eben nur in der Regierung.

Die Grünen wollen sowohl auf Bundes- als auch Länderebene keine Regierungskoalition mehr ausschließen. War dieser Schritt nicht überfällig?

Palmer: Ich bin schon länger der Meinung, dass der Text des Koalitionsvertrags und nicht die Farbe des Partners entscheidend ist. Vor der Bundestagswahl war dies aber noch nicht durchsetzbar. Die ideologische Abrüstung bei allen Parteien ist jetzt aber nicht mehr aufzuhalten – und das finde ich richtig. Mein Ziel ist es, deutlich zu machen, dass wir unsere Positionen mit verschiedenen Partnern durchsetzen können und müssen.

Heute Jamaika, morgen womöglich Rot-Rot-Grün. Befürchten Sie nicht, dass die Grünen damit beliebig werden?

Palmer: In der Wahrnehmung ja, in der Sache nein. Die Verhältnisse in den Ländern sind so unterschiedlich, dass man von Fall zu Fall unterscheiden muss. Ein Jamaika-Bündnis war in Hessen unter Roland Koch nach dessen ausländerfeindlichem Wahlkampf undenkbar. Wir wollten Rot-Rot-Grün, die SPD hat es vermasselt. Anders sieht es im Saarland mit Peter Müller aus, der sogar auf Atom- und Kohlestrom verzichten will. Die Wahl des Koalitionspartners ist also alles andere als beliebig, sondern konkret auf die Personen und Inhalte abgestimmt. Im Saarland haben die Grünen gut verhandelt. Nicht umsonst spuckt der CDU-Fraktionschef in Baden-Württemberg Gift und Galle und beklagt sich darüber, Jamaika sei unterirdisch schlecht, weil die lächerliche 5,9 Prozent-Partei der Grünen das Bildungsministerium bekommt und ihre Vorstellungen vollständig durchsetzen dürfte. So sollte es sein, dann ist es alles andere als beliebig. Nur um Ministerposten zu ergattern, braucht man aber nicht zu regieren. Man muss etwas verändern, sonst sollte man es lassen.

Die Grünen-Spitze scheint wenig begeistert von Jamaika an der Saar. Hätte sie den Saar-Grünen nicht stärker zur Seite stehen sollen?

Palmer: Es reicht aus, den Entschluss zu respektieren. Das Thema ist hoch umstritten. Würde Jamaika von der Parteispitze nun über den grünen Klee gelobt, gäbe es heftigen Widerspruch aus Teilen der Partei. Es darf nur nicht wieder zu einer Ausschließeritis kommen.

Erwarten Sie Grundsatzkonflikte auf dem Grünen-Parteitag am Wochenende?

Palmer: Wir haben eine grundsätzliche Frage zu klären. Sind wir Teil eines linken Lagers und deswegen nicht koalitionsfähig mit CDU und FDP? Oder sind wir eigenständig und so breit angelegt, dass wir von Fall zu Fall entscheiden können. Dieser Grundsatzkonflikt wird auszutragen sein. Ich bin eindeutig Anhänger der zweiten These.

Wie sähen die Folgen aus, wenn sich die Anhänger des linken Lagers durchsetzten?

Palmer: Wir würden uns in die Opposition begeben, weil das linke Lager derzeit keine Mehrheit mobilisieren kann. Es würde eine programmatische und gesellschaftliche Verengung bedeuten. Es gibt viele Menschen, die den Grünen zwar immer aufgeschlossener gegenüberstehen, aber nicht in ein linkes Lager gepresst werden wollen. Ich zähle mich dazu.

Die Grüne Jugend fordert vehement eine personelle Erneuerung in der Partei. Hat sie Recht?

Palmer: Eine personelle Erneuerung muss immer sein, sonst vergreist eine Partei.