Düsseldorf. .

Das Verfassungsgericht hat den Nachtragshaushalt des Landes NRW für 2010 gestoppt. Die rot-grüne MInderheitsregierung erlitt damit eine schwere juristische Schlappe.

Unvermittelt ge­hen in der Landespolitik die Lichter aus. Draußen vereinigen sich gerade der aus den Ufern getretene Rhein und tiefgraue Regenwolken zu einer düsteren Front, als im Pressezentrum des Düsseldorfer Landtags plötzlich die Deckenstrahler erlöschen. „Der Finanzminister hat wohl aus Verbitterung dem Parlament den Strom abgedreht“, feixt Gerhard Papke, der Fraktionschef der FDP. „Stromrechnung nicht bezahlt“, gluckst der neben ihm sitzende CDU-Amtskollege Karl-Josef Laumann vergnügt. Die Opposition ist obenauf an diesem Dienstagnachmittag. Zum ersten Mal seit der schmählichen Wahlniederlage am 9. Mai 2010.

Der Tag nimmt eine unerwartete Wendung

Es ist 13.53 Uhr als die ersten Ticker-Meldungen dem Tag eine unerwartete Wendung geben. Der NRW-Verfassungsgerichtshof in Münster hat per einstweiliger Anordnung entschieden, dass die rot-grüne Minderheitsregierung die im Nachtragshaushalt 2010 beschlossene Kreditlinie vorerst nicht ausschöpfen darf. Was technisch-trocken klingt, ist ein politisch in Deutschland bislang einmaliger Vorgang: Die höchste Rechtsinstanz greift in das hohe Gut der politischen Haushaltsautonomie ein.

Rücklage für marode Landesbank WestLB

Zwar geht es vornehmlich um eine milliardenschwere Rücklage für die marode Landesbank WestLB, die Finanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD) bis zur Klärung der Verfassungsfestigkeit seines Haushalts nicht anlegen darf. Aber CDU und FDP, die in Münster geklagt hatten, sehen Rot-Grün „bis auf die Knochen blamiert“, wie es Papke formuliert, ja eine „ernste Regierungskrise“.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Schlacht um die Interpretationshoheit längst im Gange. Kurz zuvor noch wirken alle von der Kunde aus Münster kalt erwischt. Laumann wird hektisch aus einem Seminar zur Gemeindefinanzierung gerufen. Juristisch beschlagene Fraktionsmitarbeiter studieren, heftig an Zigaretten saugend, die 18-seitige Post der Verfassungsrichter, um dem Chef eine klare Botschaft aufzuschreiben. FDP-Mann Papke eilt um 14.52 Uhr mit kleinen Schritten zu Laumanns Landtagsbüro, um eine gemeinsame Oppositionslinie festzulegen.

Erst allmählich wird auch die Landesregierung sprechfähig. Erste Stellungnahmen sind noch eine Frage des Temperaments. Innenminister Ralf Jäger (SPD), einst „Jäger 90“ gerufen, spricht auf dem Treppenabsatz in eigenwilliger Interpretation von „einer krachenden Niederlage der Opposition“. Der zurückhaltende Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) hetzt mit hochgeschlagenem Mantelkragen vorbei und ruft: „Ich sage gar nichts, ich lese erst mal.“

Über allem schwebt die „N-Frage“

Um 16.15 Uhr schließlich demonstriert Finanzminister Norbert Walter-Borjans nach einem Gespräch mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) im Eingangsbereich der gläsernen Staatskanzlei maximale kölsche Gelassenheit: Er werde selbstverständlich das Verfassungsgericht respektieren und keine weiteren Kredite aufnehmen. Die Handlungsfähigkeit der Regierung sei indes nicht eingeschränkt.

Über allem schwebt die „N-Frage“: Ruft Rot-Grün Neuwahlen aus, wenn die Verfassungsrichter die Haushaltspolitik in spätestens drei Monaten für verfassungswidrig erklären sollten? Immerhin hat Vize-Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann (Grüne) im Hochgefühl anhaltend guter Umfragewerte jüngst wissen lassen, Neuwahlen seien bei einem Etat-Stopp ein „ungeschriebenes Gesetz“.

Walter-Borjans klingt da deutlich zurückhaltender: „Neuwahlen sind kein Thema, denn unser Nachtragshaushalt ist ja mit parlamentarischer Mehrheit verabschiedet worden.“

Wundern über „Triumphgeheul“

SPD-Fraktionschef Norbert Römer wundert sich vorgeblich „über das Triumphgeheul der Opposition“, will de­monstrativ zum Tagesgeschäft übergehen. Auch die Grünen-Chefs Monika Düker und Sven Lehmann wollen sich keine Regierungskrise einreden lassen.

Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) analysiert die politischen Konsequenzen ma­thematisch: „Für Neuwahlen brauchen wir eine Entscheidung, bei der sich einundneunzig Hände heben. Das sehe ich zurzeit nicht.“ FDP-Fraktionschef Papke zumindest macht an diesem Nachmittag noch einmal deutlich, dass er im Zweifel lieber über ein Ampel-Bündnis mit SPD und Grünen verhandeln würde, als die Liberalen dem parlamentarischen Tod durch Neuwahlen auszusetzen.

Bei Neuwahlen stünde Röttgen zur Verfügung

Auch Linken-Fraktionschefin Bärbel Beuermann stellt eilig fest: „Es gibt keinerlei Anlass, über Neuwahlen nachzudenken.“ CDU-Fraktionsvize Josef Hovenjürgen, gelernter Landwirt, bringt es auf eine kernige Formel: „Ja, will Rot-Grün denn sagen: Sorry, wir haben die Verfassung gebrochen und brauchen jetzt eine neue Mehrheit, um sie noch besser brechen zu können?“

In Berlin hockt derweil CDU-Landeschef Norbert Röttgen bezeichnenderweise im Restaurant „Kanzlereck“, als sein Handy vibriert. Es ist mittags, es gibt Kartoffelsuppe, die er nicht anrührt. „Das ist ja ein dicker Hund“, entfährt es ihm, als er mit der Nachricht aus Düsseldorf konfrontiert wird. Erst auf Nachfrage versichert der Bundesumweltminister, im Fall von Neuwahlen stünde er für eine Spitzenkandidatur zur Verfügung. Das „Kanzlereck“ könnte plötzlich weit weg sein.