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Plus 13 Pisa-Punkte in der Lesekompetenz, plus 23 Punkte in Mathematik, plus 33 Punkte in Naturwissenschaften. Wie sind solche Entwicklungen zu deuten? DerWesten sprach darüber mit dem Essener Bildungsforscher Klaus Klemm.

Plus 13 Pisa-Punkte in der Lesekompetenz, plus 23 Punkte in Mathematik, plus 33 Punkte in Naturwissenschaften: Der Blick zurück belegt, dass es seit dem Pisa-Schock vom 4. Dezember 2001 doch deutliche Fortschritte im deutschen Lernbetrieb gegeben hat.

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In Mathe und Naturwissenschaften liegen Deutschlands 15-Jährige damit klar über dem Durchschnitt der 65 Industrienationen, die weltweit an den Schülerleistungstests der OECD teilgenommen haben. Der stetige Aufwärtstrend fällt vor allem deshalb ins Auge, weil andere Länder zeitgleich zurückgefallen sind. Der damalige Spitzenreiter Finnland verbuchte aktuell bei der Lesekompetenz zehn Pisa-Punkte weniger als neun Jahre zuvor. Ganze 19 Punkte liegt Schweden heute hinter seinem damaligen Spitzenergebnis zurück, liegt damit unter dem OECD-Durchschnitt. Österreichs Schüler büßten gar 37 Punkte ein.

Wie sind solche Entwicklungen zu deuten? DerWesten sprach darüber mit dem Essener Bildungsforscher Klaus Klemm, der auch nach seiner Emeritierung die Entwicklungen in der weltweiten Bildungslandschaft mit großem Interesse verfolgt.

Herr Professor Klemm, haben Sie die guten Ergebnisse der deutschen Schüler überrascht?

Klemm: Eigentlich hatte ich erwartet, dass der bisher erreichte Level gehalten wird. Dass sie in Mathematik und Naturwissenschaften so stark aufgeholt haben, ist allerdings bemerkenswert. 30 Pisa-Punkte entsprechen einem Lernjahr – die Schulen haben also einen beachtlichen Sprung gemacht.

Wie erklären Sie sich die deutlichen Verluste der vormaligen Pisa-Sieger Finnland, England oder Schweden?

Diese Entwicklung hat mich doch überrascht. Erklären kann ich sie mir nicht. Allerdings liegt Schweden beim Lesen gleichauf mit Deutschland. Und Finnland ist trotzdem weltweit stabil unter den ersten fünf Nationen in der Spitzengruppe – als einziges europäisches Land.

Shanghai und Hongkong, Singapur, Südkorea: Diese Länder haben diesmal in allen drei Testbereichen Spitzenwerte erreicht. Sind ihre Schulen die besten der Welt?

Der Erfolg der Asiaten

Schüler aus China, Korea und Japan haben in allen Pisa-Sparten blendend abgeschnitten. Trotzdem wollen Bildungsexperten sich kein Beispiel an ihnen nehmen.

Asiatische Schüler sind in allen abgefragten Gebieten spitze. Was macht sie so er­folgreich? Sollte Deutschland sich ein Beispiel nehmen?

Nein, meint Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Philologenverbandes, und warnt vor der ausgeprägten Lern- und Drillkultur in Korea oder Japan. Die Erfolge seien oft privat finanziertem Zu­satzunterricht geschuldet. Vorbildlich sei in Asien allerdings der hohe Stellenwert von Bildung. Auch der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung, Udo Beckmann, führt die Lernerfolge in Asien auf Drill zurück und warnt vor Nachahmung. Zu­mal Pisa kein Gesamtbild der Schulleistungen ermögliche.

Personalberater Claus-Peter Barfeld kann bislang keine verstärkte Nachfrage nach asiatischen Fach- und Führungskräften bei der deutschen Wirtschaft feststellen. Allerdings würden zunehmend Asiaten an deutschen Unis und in deutschen Betrieben sehr gut ausgebildet. Um sie danach in ihren Heimatländern einzusetzen – in Betrieben deutscher Firmen.

Ich finde diese Entwicklung beunruhigend. 2009 habe ich Schulen in Shanghai besucht – und muss sagen: Solche Schulen will ich hier nicht haben. Zum einen müssen Eltern den Zugang zu guten Schulen schwer erkämpfen. Zum anderen stehen die Kinder extrem unter Druck: 40 Stunden Unterricht in der Woche sind normal, abends, samstags und sonntags wird zuhause weiter gelernt.

Der Erfolg ist doch nun offensichtlich.

Eher nicht. Schon im vergangenen Jahr gab es in den Zeitungen von Singapur eine Debatte darüber, dass Asiens Schulen bei den weltweiten Tests immer vorn liegen. Zugleich fällt auf, dass keines der Länder einen Intellektuellen vorweisen kann, der weltweit in der Wissenschaft eine Rolle spielt. Gut möglich, dass der strenge Drill, die extreme Disziplin und der dauernde Druck der Kreativität der Kinder und Jugendlichen nicht förderlich sind. Wir sollten uns jedenfalls nicht an diesen Vorbildern orientieren.

Erdrutschartig abgestürzt in der Leseleistung ist unser Nachbarland Österreich. Was steckt dahinter?

Das weiß ich auch nicht. Habe allerdings davon gehört, dass es während der Pisa-Tests im vergangenen Jahr Boykott-Aufrufe an den Schulen gab. Gut möglich, dass sich viele Schüler gar nicht ernsthaft beteiligt haben.

Seit 2002 gab es in den 16 Bundesländern eine Vielzahl von Veränderungen im Schulbetrieb. Welche davon haben sich bewährt?

Dazu gibt es bisher leider keine wissenschaftlich gestützte Analyse. Wir wissen also nicht, ob es richtig ist, an dieser Stellschraube zu drehen oder an jener. Deutsche Schüler haben den größten Lese-Fortschritt zwischen den Jahren 2000 und 2003 erreicht (+ 7 Punkte) – der ist noch nicht erklärbar mit Neuerungen, die erst danach in den Schulen ankamen. Wir wissen noch nicht, was genau hilft.

Grund zum großen Jubel besteht ja auch noch nicht. Die Gruppe der Risikoschüler, die nach zehn Schuljahren kaum besser lesen und rechnen als Viertklässler, ist nach wie vor groß.

Sie ist kleiner geworden, das heißt: Wenn man etwas für diese Kinder und Jugendlichen tut, dann kann man auch etwas bewirken. Aber noch immer scheitern zu viele Jugendliche beim Lernen – fast jeder fünfte junge Mensch. Das kann sich dieses Land nicht länger erlauben.

Was ist zu tun?

Es ist richtig, die Kindergärten als Vorschulen zu stärken. Ganztagsschulen und die Fortbildung der Lehrkräfte müssen flächendeckend weiter ausgebaut werden. Sinnvoll ist es auch, mit den internationalen Pisa-Studien alle drei Jahre zu schauen: Wo stehen wir? Was ist erreicht, wo haben wir Nachholbedarf? Wichtig ist allerdings auch, nicht in weiteren Aktionismus zu verfallen, im Wettstreit der 16 Bundesländer immer neue Maßnahmen in die Schulen zu tragen.

Was würden Sie sich wünschen von unseren Bildungspolitikern?

Eins vor allem: Das Geld, das jetzt in unserem Bildungssystem steckt, darf nicht herausgezogen werden, wenn demnächst die Schülerzahlen sinken. Die Demographie-Rendite muss im System bleiben – trotz Schuldenbremse.

Was können die Schulen in Zukunft tun?

Klemm: Sie werden auch weiterhin gute Arbeit leisten. Ihnen gebührt ein großes Kompliment: Sie haben die Turbulenzen der letzten sieben Jahre ausgehalten, mussten ertragen und ausführen, was Politiker oftmals am grünen Tisch ausgedacht haben. Da kann ich nur sagen: Gute Arbeit!