Essen.
Kleine Lügen erhalten die Freundschaft: Was im Privaten gilt, wird auch in der Politik praktiziert. Vor allem Diplomaten müssen im Umgang miteinander gute Miene zum bösen Spiel machen. Wikileaks untergräbt diese Praxis.
Wir alle lügen, aus wissenschaftlicher Sicht sogar mehrmals am Tag. Oft lügen wir aus Angst, andere zu verletzen oder mit unserer Meinung anzuecken. Auch auf dem politischen Parkett sind die als „White Lies“ bezeichneten Schummeleien gang und gäbe, durchaus aus guten Gründen. Wie riskant die Wahrheit sein kann, zeigen diejüngsten Veröffentlichungen geheimer US-Einschätzungen über internationale Politiker auf Wikileaks.
Was ist Wikileaks?
Enthüllen und aufklären – das wollen die Erfinder von WikiLeaks. Auf ihrer Homepage werden geheime Dokumente veröffentlicht, die Skandale aufdecken: über die Kundus-Affäre, über Scientology - und aktuell Zehntausende US-Berichte.
Auf der Internet-Plattform WikiLeaks kann jeder anonym Dokumente veröffentlichen, wenn sie im öffentlichen Interesse stehen. So wurden auf der Plattform bereits Unterlagen, die Steuertricks der Schweizer Privatbank Julius Bär offenbaren, Handlungsanweisungen für das US-Gefangenenlager Guantanamo und geheimes Scientology-Material oder die Mitgliederliste der rechten British National Party veröffentlicht. Auf WikiLeaks wurden auch große Teile der Kundusakte sowie ein Video öffentlich gemacht, das zeigte, wie US-Soldaten in Bagdad unbewaffnete Zivilisten erschießen.
Dabei prüft Wikileaks nach eigenen Angaben jedes Dokument auf seine Echtheit. Das Restrisiko, auf eine Fälschung hereinzufallen, liege bei höchstens einem Prozent. Um die Informationen öffentlich zu machen, wurde ein System „für die massenweise und nicht auf den Absender zurückzuführende Veröffentlichung von geheimen Informationen und Analysen“ geschaffen, wird auf der Homepage behauptet. Serverkosten, Registrierungs-Gebühren, Bankgebühren und Bürokratie-Kosten werden durch Spenden von Privatpersonen finanziert. Geld von Unternehmen oder Regierungen nimmt WikiLeaks laut Erfinder Julian Assange nicht an. (vk)
Während auf politischer Ebene stets absolute Höflichkeit herrscht, kamen in diesen Dokumenten die privaten Einschätzungen amerikanischer Botschaftsangehöriger auch über deutsche Politiker ans Licht. Günther Öttinger sei „eine lahme Ente“, Dirk Niebel wird als „schräge Wahl“ bezeichnet und CSU-Chef Seehofer sei „unberechenbar mit begrenztem Horizont“. Henning Riecke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin sieht in diesen Veröffentlichungen aber keine politische Katastrophe. „Klar ist das ein peinlicher Moment. Aber was da drinsteht, könnte aus einer deutschen Tageszeitung stammen. Das sind nüchterne Einschätzungen. Auch die Deutschen würden genauso offen über Schwächen der Amerikaner diskutieren und könnten nur hoffen, dass sie nicht die nächsten sind, die erwischt werden .“
Beim Lügen schämt man sich
Menschen lügen immer dann, wenn sie sich selbst in ein besseres Licht setzen können oder andere vor Schaden bewahren wollen, erklärt Prof. Dr. Alfons Hamm vom Institut für Psychologie der Universität Greifswald. „Eine Lüge ist immer mit Scham verbunden“, sagt der Wissenschaftler, der sich mit Emotionen beschäftigt und dabei auch das Wesen der Lüge erforscht hat – denn immerhin verstoße man beim Lügen gegen Moralvorstellungen. Bei Kindern sei dies ganz deutlich zu erkennen, denn sie meiden dann den Blockkontakt. Nach einer „White Lie“ fühle man sich allerdings auch erleichtert, weil man auf diese Weise einen möglichen Konflikt vermieden habe. „Man erscheint dann sozial angepasst. Lügen macht das Leben leichter.“ Hamm nennt eine „White Lie“ deshalb auch Feigheitslüge oder Mitleidslüge. „In der Diplomatie suggeriert man, dass man jeden ernst nimmt, hat aber hintenherum sehr abwertende Urteile abgegeben.“ Damit habe Wikileaks die betreffenden Diplomaten bei einer Lüge erwischt, was für diese jetzt natürlich peinlich sei. Politik jedoch ganz ohne dieses Verwirrspiel – das hält Hamm nicht für möglich. „Auf dieser Ebene gibt es ja ganz andere Konsequenzen, wenn man immer seine wahre Meinung äußert.“ In diesem Fall sei der Schuss allerdings nach hinten losgegangen.
Keine Diplomatie ohne Geheimnisse
Henning Riecke wiegelt ab. So schlimm sei die Veröffentlichung der Politikerbeurteilungen nicht. „Ich glaube, dadurch wird man kurzfristig vorsichtiger miteinander umgehen. Doch die Beziehungen zwischen Ländern hängen ja auch noch von anderen Faktoren ab.“ Trotzdem dürfe nicht alles öffentlich gemacht werden, was in der Diplomatie besprochen werde. „Ohne Geheimnisse gibt es keine Diplomatie.“
Außenminister Westerwelle jedenfalls zeigte sich nach der Veröffentlichung überzeugt, dass der Vorfall die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nicht beeinflussen werde. „Wir arbeiten mit der amerikanischen Regierung eng und freundschaftlich zusammen, und das wird auch so bleiben.“ Bleibt die Frage, ob das die Wahrheit oder eine „White Lie“ ist.