Peking/Oslo. .

Wie die Frau des Friedensnobelpreisträgers die Ehrung ihres Mannes Liu Xiaobo sieht und warum sich China so vor diesem friedlichen Mann fürchtet.

Wann wird Liu Xiaobo erfahren, dass er den Friedensnobelpreis erhalten hat? Zeitung zu lesen, erlauben ihm seine Wärter nicht, ausländische Radiosender darf er nicht hören. Ob seine Frau Liu Xia es ihm bei ihrem nächsten Besuch im Gefängnis erzählen darf? Vielleicht. Die Polizei habe ihr erlaubt, dass sie in die Provinz Liaoning reisen könne, um am Samstag ihrem dort inhaftierten Mann von der Ehrung zu berichten, erzählte Liu nach der Bekanntgabe des Nobel-Komitees.

Seit dem der 54jährige Literaturwissenschaftler und Philosoph Liu Xiaobo im vergangenen Dezember wegen „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt und zum Umsturz des sozialistischen Systems“ zu elf Jahren Haft verurteilt wurde, darf seine Frau ihn nur einmal im Monat sehen - und dabei nur über Alltägliches und Familienangelegenheiten sprechen, aber kein Wort über das, was in der Außenwelt passiert.

Zwei Wachleute notieren alles, was sich das Paar in dieser einen kostbaren Stunde erzählt. Stets nimmt eine Kamera die Begegnung auf: „Ich konnte ihm nie sagen, dass sich so viele Menschen für ihn einsetzen und dass er zu den Favoriten für den Friedensnobelpreis gehörte“, sagte die 49-jährige Künstlerin vor wenigen Tagen in Peking. Aber sie glaubt sicher, dass der Preis „gut für China ist“ und dass er das Leben ihres Mannes erleichtern wird: „Sie müssen ihn dann im Gefängnis zumindest gut behandeln.“

„Der Preis ist gut für China und für meinen Mann“

Die chinesische Regierung reagiert am Freitagvormittag zunächst mit Schweigen auf die Auszeichnung. Die Entscheidung aus Oslo sei „zur Kenntnis genommen worden, heißt es ohne weiteren Kommentar. Später wird der Ton schärfer. Der Nobelpreis für Liu sei unanständig. Seine Aktivitäten widersprächen dem Ziel des Friedensnobelpreises. „Liu Xiaobo ist von der Justiz der Verletzung des chinesischen Gesetzes für schuldig befunden und zu einer Haftstrafe verurteilt worden“, erklärt das chinesische Außenministerium.

Unterdessen sind Chinas Internet-Zensoren fleißig: Wer Suchmaschinen wie Google oder Baidu aufruft und Lius Namen eintippt, dessen Bildschirm friert sofort ein. Dennoch verbreitet sich die Nachricht blitzschnell über Mikroblogs und chinesischsprachige Zeitungen im Ausland: „Wir haben gewonnen! Gewonnen! Gewonnen“, jubelt ein Kommentator.

Mit der Ehrung Lius erinnert das norwegische Komitee in Zeiten des weltweiten Staunens über das chinesische Wirtschaftswunder an eine einfache Wahrheit: Keine Regierung hat das Recht, ihre Bürger zu unterdrücken und ihnen die elementaren Freiheiten zu nehmen.

Liu ist der prominenteste und beharrlichste politische Denker aus der chinesischen Bürgerrechtsbewegung: Seit über 20 Jahren setzt er für einen friedlichen Wandel zu einem neuen, demokratischen China ein - und hat dafür er immer wieder die eigene Freiheit verloren.

Als er in jener Dezembernacht vor dem „Internationalen Tag der Menschenrechte“ des Jahres 2008 von Polizisten aus seiner Wohnung verschleppt wurde, war er vorbereitet: Wenige Stunden später sollte ein von ihm mitverfasster Reformappell „Charta 08“ im Internet veröffentlicht werden, den Liu und über 300 Mitstreiter unterzeichnet hatten.

Die Charta 08 warb für Freiheit und kostete die Freiheit

Nach dem Vorbild der großen Freiheitsmanifeste wie der „Magna Charta“ Großbritanniens und der tschechoslowakischen „Charta 77“ erschien in China nun erstmals ein Dokument, das nicht nur die bestehende Ordnung kritisiert, sondern eine große Zukunftsvision für China entwirft.

Seine Autoren sprechen sich für einen demokratischen Mehrparteienstaat aus, in dem die Bürger keine Angst davor haben müssen, ihre Meinung frei zu äußern, für einen Staat mit unabhängigen Gerichten und Religionsfreiheit.

Die Charta 08 fordert nicht die Abschaffung der Kommunistischen Partei, sondern die Möglichkeit, sie friedlich abzuwählen. „In der chinesischen Bevölkerung gibt es viele“, schrieben die Autoren,“ die klar erkannt haben, dass Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte zu den universellen Werten der Menschheit gehören, und dass die Demokratie und eine verfassungsgemäße Regierung den grundlegenden Rahmen für diese Werte schaffen.“

Trotz aller Versuche der Behörden, die „Charta 08“ sofort aus dem Internet verschwinden zu lassen, verbreitete sich das Dokument schnell im Netz. Die Polizei hatte Liu - nach dem bösen alten Motto „das Huhn töten, um die Affen zu erschrecken“ - festgenommen und die 303 Erstunterzeichner einzeln verhört und verwarnt. Dennoch: In den Tagen und Wochen darauf unterschrieben Tausende Chinesen aus allen Teilen des Landes, bekannte Schriftsteller, Professoren, Anwälte, und ehemalige Parteifunktionäre ebenso wie gewöhnliche Bürger. Auf über achttausend Namen soll die Liste inzwischen angewachsen sein.

Bis 2020 verurteilt

Wie gefährlich diese Art des zivilen Widerstands nach Ansicht der Regierung ist, zeigt sich in dem scharfen Urteil, dass die Pekinger Richter am zweiten Weihnachtstag 2009 in einem Schnellverfahren verhängten: Bis zum Jahr 2020 soll Liu für das „Verbrechen“ büßen, die Allmacht und Willkür der Partei herausgefordert zu haben.

Liu gehört zu jener Generation von Bürgerrechtlern, deren Jugend vom Personenkult um den KP-Vorsitzenden Mao Zedong, von blutigen Fraktionskämpfen und den gegenseitigen Denunziationen der Rotgardisten in der sogenannten „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ geprägt wurde.

Er wird im Dezember 1955 in eine Militärfamilie in der nordostchinesischen Industriestadt Changchun geboren. Als die Hochschulen nach der Kulturrevolution wieder geöffnet werde, schafft er im Jahr 1978 die Aufnahmeprüfung an die Pädagogische Hochschule der Stadt Jilin.

Anfang der achtziger Jahre zieht er mit seiner ersten Frau Tao Li nach Peking und spezialisiert sich auf vergleichende Literaturwissenschaft. 1988 wird er mit einer Doktorarbeit über „Ästhetik und die Freiheit des Menschen“ an der Pekinger Normaluniversität promoviert und beginnt zu unterrichten.

Wie viele chinesische Intellektuelle wirft er sich in den achtziger Jahren auf die philosophischen Bücher, die erstmals wieder aus dem Ausland nach China herein kommen. Liu verschlingt die Werke Nietzsches und anderer deutscher Denker wie Hegel, Kant und Heidegger. Er veröffentlicht bald eine Fülle eigener Artikel, in denen er kritisch mit den Werken chinesischer Schriftsteller und der Haltung der Intellektuellen gegenüber der Obrigkeit umgeht. So entfacht er die erste Debatte über Chinas Literatur nach der Kulturrevolution.

Liu verhandelte 1989 mit den Militärs

Mit seinen radikalen und - damals nicht selten schroff vorgetragenen - Ansichten stößt er in seinen jüngeren Jahren selbst liberal gesinnte Chinesen vor den Kopf: Als Studenten 1989 den Tod des wegen seiner relativ aufgeschlossenen Politik beliebten ehemaligen KP-Chefs Hu Yaobang beklagen, schilt er sie als Heuchler und fragt, warum sie nicht um den Dissidenten Wei Jingsheng trauerten. Der sitzt seit 1979 im Gefängnis, weil er es gewagt hat, Demokratie zu fordern und den damaligen starken Mann Deng Xiaoping zu kritisieren.

In den folgenden Jahren reist Liu zu kürzeren Forschungsaufenthalten ins Ausland, unter anderem nach Oslo und Hawaii. Als im April 1989 Pekinger Studenten auf den Tiananmen-Platz marschieren und für größere Freiheiten demonstrieren, kehrt Liu vorzeitig aus den USA zurück. Er schließt sich der Demokratiebewegung an, organisiert Seminare und ermahnt die Studenten dabei, mit der „Demokratie im Kleinen“ zu beginnen. Liu setzt sich für absolut gewaltfreien Widerstand ein, auch als Deng und die Hardliner in der Partei die Panzer gegen die Demonstranten rollen lassen.

In der Nacht zum 4. Juni gelingt es Liu, mit den Militärs zu verhandeln und die Studenten zum Abzug vom Tiananmen-Platz zu überreden. Zwei Tage später wird er verhaftet. Die Behörden werfen ihm vor, „Drahtzieher“ der Proteste gewesen zu sein und werfen ihn für 18 Monate ins Qincheng-Gefängnis in Peking.

Berufsverbot verhängt

Als er herauskommt, hat er Berufsverbot: Er darf nicht mehr unterrichten und auf dem chinesischen Festland keine Essays und Bücher mehr veröffentlichen. Seine Werke können nur noch im politisch freieren Hongkong und auf Taiwan erscheinen. Bis heute hat er mehr als ein Dutzend Bücher und zahllose Artikel publiziert, darunter seine Erinnerungen an die Tiananmen-Bewegung unter dem Titel „Memoiren eines Günstlings der letzten Tage“.

Er gründet zusammen mit anderen Autoren den - von Chinas Behörden nicht anerkannten - unabhängigen Schriftstellerverband PEN. Das Internet wird ihm zur intellektuellen Lebensader. Es hilft Liu wie vielen Bürgerrechtlern und verbotenen Autoren aus der Einsamkeit. 1995 wird er unter Hausarrest gestellt und ein Jahr später wegen seiner regierungskritischen Artikel für drei Jahre ins „Umerziehungslager“ geworfen. Dort darf er - mit Unterstützung eines freundlichen Funktionärs - im Jahr 1998 seine zweite Frau Liu Xia heiraten, die ihren Job als Steuerbeamtin aufgegeben hat und als Fotografin, Malerin und Dichterin arbeitet.

Aus dem einst scharf argumentierenden Liu ist in diesen Jahren ein versöhnlicher und liebenswürdiger Mann geworden, der immer wieder bereit ist, sich für andere einzusetzen. Er wird beschattet, steht häufig unter Hausarrest.

„Hass zerfrisst die Weisheit“

Seiner Grundüberzeugung, dass Konflikte friedlich und vernünftig gelöst werden müssen, bleibt er trotz aller Schikanen treu. In seiner Verteidigungsrede, die er vor Gericht nicht halten darf, sagt Liu, er habe „keine Feinde und empfinde keinen Hass“ - auch nicht gegen die Polizisten und die Richter, die ihm seine Freiheit raubten.

Liu: „Hass zerfrisst die Weisheit und das Gewissen eines Menschen. Eine Geisteshaltung, die in Feindschaft wurzelt, kann eine Nation vergiften, zum brutalen Kampf auf Leben und Tod führen, die Toleranz und Menschlichkeit einer Gesellschaft zerstören und den Weg einer Nation zu Freiheit und Demokratie blockieren.“

Seiner Frau Liu Xia, die, wie sie sagt, „nie etwas mit der Politik zu tun haben, sondern nur ein ruhiges Leben als Künstlerin führen wollte“, hat er in seiner Verteidigungsrede eine der schönsten Liebeserklärungen gemacht: „Auch wenn man mich zu Pulver zermahlt, meine Asche wird Dich umarmen.“