Gelsenkirchen. .

Akin Sipal gehört zu einer Gruppe von jungen Zuwanderern, die für Deutschland immer wichtiger wird. Der 18-Jährige ist ein moderner Migrant: gebildet und anspruchsvoll. In Deutschland studieren will er nicht - und macht dafür die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik verantwortlich.

Tina Bucek sprach mit dem Abiturienten über Zukunftschancen, das deutsche Bildungssystem und ein Leben zwischen den Kulturen

Sie machen gerade ihr Abitur: schwierig?

Warum sollte das ein Problem sein? Schule war für mich nie ein Problem, dafür haben schon meine Eltern gesorgt. Außerdem bin ich sehr ehrgeizig. Das einzige, was mich im Moment nervt, sind die Klausuren und dass ich deswegen nicht an den Protesten gegen das deutsche Bildungssystem teilnehmen kann. Naja, ich könnte schon teilnehmen, so wild ist das mit dem Abi ja nicht. Es gibt auch andere Gründe . . .

Und die wären?

Als die Jusos zu uns an die Schule kamen und uns aufgefordert haben, mit zu streiken, da war ich der einzige, der auf dem Schulhof stand. Und das war mir dann auch zu blöd. Wobei, vielleicht hätte ich es einfach machen sollen, ich denke nämlich, dass diese Haltung genau das Problem ist.

Kaum Proteste

Eine Haltung der Gleichgültigkeit?

Eine Haltung, die nie aufbegehrt. In der Protest nicht vorkommt. In der man sich im Zweifel eher anpasst als aufsteht und ,,nein” sagt. In keinem anderen europäischen Land wird so wenig gestreikt und demonstriert wie in Deutschland. Dabei muss die Bildungslandschaft hier doch jeden halbwegs aufgeklärten Menschen auf die Palme bringen. Ich jedenfalls werde wohl nicht bleiben, wenn die Bildungspolitik in diesem Lande sich nicht radikal ändert . . . Dann gehe ich an eine internationale Universität in der Türkei, da gibt es inzwischen ganz ausgezeichnete Optionen. Oder eben woanders hin.

Und viele meiner türkischen Freunde, Leute mit tollen Schulabschlüssen, die mehrere Sprachen fließend sprechen und sich wirklich zwischen den Kulturen bewegen können, die sehen das genauso. Deutschland ist für viele von uns in Sachen Ausbildung, Berufschancen und Zukunftsplanung schon lange nicht mehr erste Wahl.

Was müsste sich denn in Deutschland ändern, damit Sie hierbleiben?

Erstmal müsste diese absurde Idee mit den Studiengebühren vom Tisch. Was erreicht man denn damit? Man erreicht, dass nur noch junge Menschen studieren werden, deren Eltern das nötige Kleingeld haben.

Die Gruppe der anderen, der sozial Schwächeren, wird komplett vom System abgeschnitten. Damit wird die Schere zwischen arm und reich noch größer, als sie sowieso schon ist. Und ich sage das als jemand, dessen Eltern genügend Auskommen haben, um mein Studium zu finanzieren, darum geht es auch gar nicht. Es geht darum, Bildungsgerechtigkeit zu schaffen. Die gibt es in diesem Land nämlich schon lange nicht mehr. Es gibt kein offenes kreatives Klima, keine lebendigen Debatten, keinen echten Streit – und die Tatsache, dass gerade humanistische und geisteswissenschaftliche Studiengänge immer weiter ausgedünnt werden, trägt auch nicht zur Verbesserung der Situation bei.

Bildung war immer wichtig

Aber gerade Zuwanderer sind in Deutschland von Bildungsungerechtigkeit betroffen, das sagen jedenfalls die Statistiken . . .

Das ist doch keine Frage von Zuwanderer ja oder nein, sondern eine Frage der sozialen Schicht. Meine Eltern sind Zuwanderer, ja, aber sie sind auch Akademiker. Bildung war in unserer Familie immer wichtig. Meine Karriere im deutschen Bildungssystem ist die von meinen deutschen Freunden mit Akademikereltern. Und die Chancenlosigkeit eines zugewanderten Sozialhilfeempfängers im deutschen Bildungssystem ist die eines deutschen. Die Schere ist eine soziale, keine kulturelle.

Sie sind in zwei Kulturen groß geworden: Was bedeutet das für Sie?

Erstmal, dass ich von Kind an zwei Sprachen fließend sprechen und schreiben gelernt habe. Meine Mutter ist Deutsche, sie hat mit uns Deutsch gesprochen. Mein türkischer Vater sprach mit uns Kindern türkisch, das haben die konsequent durchgezogen. Und dann habe ich in zwei Gesellschaften gelebt, Istanbul ist für mich ebenso Heimat wie Gelsenkirchen, ich hätte kein Problem, dort zu leben, ich habe dort Freunde, auch Verwandtschaft. Ich glaube aber, dass das Ergebnis dieser multikulturellen Erziehung und Lebensweise ist, dass man sich grundsätzlich leichter zwischen den Kulturen, auch anderen Nationalitäten bewegt, flexibler, offener ist. Wenn mich jemand fragen würde, fühlst du dich mehr als Türke oder mehr als Deutscher, dann würde ich antworten: Ich fühle mich als Weltbürger.