Essen. Ohne nennenswertes Wachstum gerät der Sozialstaat wie wir ihn kennen unter Druck. Langfristig stehen uns höhere Belastungen ins Haus. Doch die nötige Neuorientierung ist machbar, glauben Experten. "Wir werden unser Leben entkommerzialisieren", sagt einer von ihnen.
Nicht Geld spart man bei der Zeitbank in München für die Zukunft an, sondern Zeit. „Wir sind ein soziales Experiment”, sagt die Gründerin Joyce Mayer. Die Idee ist so einfach wie bestechend. Wer heute der alten Nachbarin die Einkäufe erledigt, kann sich die Stunden für den Fall gutschreiben lassen, dass er im Senioren-Alter später selbst der Hilfe bedarf. Gelingt es der Zeitbank in den kommenden Jahrzehnten, genügend junge Mitglieder zu gewinnen, funktioniert das Versicherungsprinzip auf neue Art: Arbeit gegen Arbeit, nicht Geld gegen Geld.
Projekte wie diese könnten erste Anzeichen einer Ökonomie sein, in der Geld eine geringere Rolle spiele als heute, sagt Nico Paech. Der Wachstumsforscher an der Universität Oldenburg glaubt nicht daran, dass die Maschine unseres Wirtschaftswachstums mit ihrer Steigerung des Bruttoinlandprodukts (BIP) um zwei oder drei Prozent pro Jahr ewig so weiterläuft.
"Selbst Dienstleistungen sind enorm materialintensiv"
„Ein weiterer Zuwachs materiellen Wohlstands, wie wir ihn kennen, gefährdet unsere Lebensgrundlagen”, sagt Experte Paech. Er verweist auf die Klimaerwärmung. Auch der Umbau zu einer vermeintlich grünen Wirtschaft verspreche keine wirklich Entlastung. „Selbst Dienstleistungen sind enorm materialintensiv. Moderne Studenten verfliegen viele Liter Kerosin.”
Paech zieht daraus die Schlussfolgerung, dass wir auf sparsamere Lebensmodelle umsteigen müssen, wie sie sich in der Münchner Zeitbank ankündigen. „Wir werden unser Leben teilweise entkommerzialisieren”, sagt er. „Auch das Sozialsystem kann dann nicht mehr alle Dienstleistungen zur Verfügung stellen, die heute üblich sind. Als moderne Selbstversorger müssen die Menschen manche Tätigkeiten in Eigenregie übernehmen.”
Dies ist eine Sichtweise auf die Entwicklung, doch es gibt konkurrierende Perspektiven. Der Würzburger Wirtschaftsprofessor Peter Bofinger sagt: „Wirtschaftswachstum ist nicht unbedingt nachteilig für die Umwelt.” Gleichwohl bezweifelt auch er den Sinn der ewigen Mengensteigerung und weist darauf hin, dass die deutsche Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich nur noch um ein Prozent jährlich gewachsen sei – erheblich weniger als in den Boomzeiten der alten Bundesrepublik.
"Wir können auch mit einem Prozent Wachstum leben"
Muss das ein Problem sein? „Grundsätzlich kann unsere Gesellschaft auch mit einer Zunahme des BIP von durchschnittlich nur einem Prozent pro Jahr zurechtkommen”, so Bofinger, der auch die Bundesregierung berät. „Unser Wohlstand würde sich innerhalb der kommenden 70 Jahre verdoppeln.” Auch nicht schlecht – wenngleich man sich dann mit der Aussicht anfreunden muss, dass die Summe des jährlich zusätzlich zu verteilenden Wohlstands im Gegensatz zu früher bescheiden ausfällt.
Während der Spielraum enger wird, steigen gleichzeitig die Kosten und mit ihnen die öffentlichen Ausgaben. So müssen die künftigen Generationen einen riesigen Staatsschuldenberg abtragen, mehr Mittel für die Absicherung und Pflege älterer Menschen aufwenden und Milliarden Euro in ein besseres Bildungssystem investieren. Woher sollen diese Summen kommen?
Müssen wir uns auf eine neue Bescheidenheit einrichten?
Möglicherweise wird das eine Prozent BIP-Wachstum nicht reichen, um die wachsenden Ausgaben zu bestreiten. Künftige Bundesregierungen müssen den Bürgern wohl höhere Steuern und Sozialbeiträge abverlangen. Konkret könnte das bedeuten: Mancher Beschäftigte, manche Familie, vielleicht die Mittelschicht insgesamt, hat später weniger Geld für den Konsum zur Verfügung. Muss sich Deutschland auf eine neue Bescheidenheit einrichten?
Die heikle Aufgabe besteht darin, einzelne gesellschaftliche Gruppen entsprechend ihrer Leistungskraft so heranzuziehen, dass der soziale Friede gewahrt bleibt. Bofinger: „Ohne funktionierenden Sozialstaat, der seine Finanzierung fair auf die gesellschaftlichen Gruppen verteilt, verlieren die Bürger das Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft”.