Essen. Die FDP ist nicht bereit, deutlich mehr Geld für arme Familien auszugeben. Die Emotionen kochen hoch, nicht zuletzt in Gelsenkirchen.

Jarik (Name geändert) und mein Sohn gehen in dieselbe Klasse, sie sind „beste Kumpel“, wie sie selbst sagen. Doch im Sommer, beim Übergang in die fünfte Jahrgangsstufe, werden sich zumindest ihre schulischen Wege trennen. Jariks Noten reichen nicht fürs Gymnasium. Seine Eltern sind Migranten, sie sprechen kaum die deutsche Sprache. Und sie haben nicht viel Geld: kein Geld für ein Kinderzimmer, in das sich Jarik in Ruhe zurückziehen könnte, kein Geld für einen Computer mit Internetanschluss, um Hausaufgaben besser zu erledigen oder mit Gleichaltrigen zu chatten, und erst recht kein Geld für Nachhilfelehrer. Wer arm aufwächst, bleibt oft arm. Armut vererbt sich auch in unserem reichen Land. Mit Chancengleichheit hat das nichts zu tun.

Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Im Ruhrgebiet sieht das vielfach sehr viel schlimmer aus. In Gelsenkirchen etwa sind sage und schreibe 42 Prozent der Kinder von Armut betroffen. Ich könnte jetzt wieder schreiben, dass das ein Skandal ist. Aber solche Worte wirken nur noch schal in ihrer inflationären Verwendung. Ich sehe es förmlich vor mir, das Schulterzucken, ich spüre sie, die Resignation.

Armutszuwanderung verschärft die Lage

Manch einer mag auf das Thema Armutszuwanderung verweisen. Und in der Tat sind es auch Flüchtlingskinder, die die Zahlen nach oben treiben. In Städten wie Duisburg und Gelsenkirchen verschärfen neben Flüchtlingen zudem EU-Bürger aus Osteuropa die Situation. Sie können ohne Beschränkungen für bis zu sechs Monate zu uns kommen, dann aber von ihren prekären Beschäftigungen kaum ihre Familien ernähren. Aber das allein kann die Kinderarmut in Deutschland nicht erklären – und schon gar nicht entschuldigen.

Dabei mangelt es auf den ersten Blick durchaus nicht an staatlichen Leistungen für Familien. Es gibt das Kindergeld, den Kinderzuschlag, es gibt Leistungen für Kinder in Hartz-IV-Gemeinschaften. Damit auch Kinder aus finanzschwachen Familien an Schulausflügen oder am Musikunterricht teilnehmen können, gibt es sogenannte soziokulturelle Teilhabeleistungen. Das Problem ist nur: All das klingt nicht nur bürokratisch. Sieben von zehn Anspruchsberechtigten rufen die Leistungen gar nicht ab. Vieles ist nicht bekannt und/oder zu kompliziert. Ein ordentliches deutsches Antragsformular ist für Menschen mit geringem Bildungshintergrund und ohne Hilfe eine kaum zu nehmende Hürde.

In der Koalition kracht es

Die Ampelparteien hatten sich darum in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Die staatlichen Leistungen sollten so gebündelt und entbürokratisiert werden. Dazu sollte auch – hört, hört! – mehr Digitalisierung in die Verwaltung einziehen. Also Friede, Freude? Pustekuchen!

Nach dem nur mühsam beigelegten Ärger um das Gas- und Ölheizungsverbot droht nun der Streit um die Finanzierung der Kindergrundsicherung in der Bundesregierung zu eskalieren. Während Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den Grünen einen zusätzlichen Finanzbedarf von zwölf Milliarden Euro anmeldet, sieht Bundesfinanzminister Christian Lindner von der FDP keinen finanzpolitischen Spielraum. Und der Kanzler? Er schweigt. Mal wieder.

Wie sehr die Debatte das ohnehin schon ungemütliche Klima zwischen FDP und Grünen vergiftet, lässt sich ausgerechnet dort besonders gut beobachten, wo die Sozialreform am dringendsten benötigt würde: in Gelsenkirchen nämlich.

Prestigeprojekt der Grünen

Irene Mihalic, Abgeordnete aus Gelsenkirchen und Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, weiß, dass die Kindergrundsicherung zu den wichtigsten Prestigeprojekten ihrer Partei gehört und darum unbedingt durchgesetzt werden muss. Es gab keinen Wahlkampfauftritt der früheren Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, bei dem diese nicht betont hatte, dass die Kindergrundsicherung zu den Essentials ihrer Politik gehöre. Bei Mihalic klingt das ähnlich. Sie spricht vom „zentralen familien- und sozialpolitischen Projekt“, zu dem sich „alle Partner bekannt“ hätten. Lindner bestimme „nicht allein, welche Prioritäten im Haushalt gesetzt werden“, giftet sie

Der Gelsenkirchener Spitzenpolitiker der FDP, Bundesjustizminister Marco Buschmann, hält auf Anfrage unseres WAZ-Lokalchefs Sinan Sat dagegen. Die Politik müsse „endlich wieder lernen, mit dem Geld auszukommen, das sie hat“, springt er Lindner, seinem Parteichef, zur Seite. Das klingt kalt, aber vordergründig vernünftig. Markus Töns, direkt gewählter Abgeordneter von der SPD, bleibt da nur noch, sich „fassungslos“ zu geben und auf den Koalitionsvertrag zu verweisen. Pacta sunt servanda, sagt der Lateiner: Verträge sind einzuhalten. Es könnte so einfach sein. Oder etwa nicht?

„Unterste Schublade“?

Nachdenklich stimmt mich eine Aussage des finanzpolitischen Sprechers der FDP, Markus Herbrand. Er hat in einem Gastbeitrag für die „Wirtschaftswoche“ davor gewarnt, unkontrolliert mehr Geld an finanzschwache Familien zu überweisen und sich dann gegebenenfalls „gutgläubig ausnutzen“ zu lassen. Würde das Geld denn wirklich bei den bedürftigen Kindern landen, oder bestünde die Gefahr, dass Eltern das zusätzliche Geld „einfach für ihre eigenen Bedürfnisse wie beispielsweise Alkohol oder Zigaretten verwenden“? Ulrich Schneider, Präsident des Paritätischen Gesamtverbandes und um deftige Aussagen selten verlegen, verortete Herbrands Aussage erwartungsgemäß reflexartig in der „untersten Schublade“.

Nun mag jeder selbst entscheiden, wem hier ein paar Tassen im Schrank fehlen: Herbrand oder Schneider. Oder beiden. Oder keinem von beiden.

Wohin fließt das Geld?

Tatsache ist: Der Staat kann den Kindern das Geld schlecht direkt geben. Er kann eine missbräuchliche Verwendung darum auch nicht ausschließen. Vorsichtig muss man aber wie immer mit pauschalisierenden Aussagen sein. Auch arme Eltern lieben ihre armen Kinder. Viele Eltern verzichten selbst auf viel oder fast alles, damit sie ihren Kindern so viel wie eben möglich bieten können. Diese Väter und Mütter haben es nicht verdient, mit jenen schwarzen Schafen über einen Kamm geschoren zu werden, die es ganz sicher auch gibt.

Was bleibt, sind drei Fragen. Erstens: Was sind uns die Kinder wert in unserer Gesellschaft? (Meine Hoffnung ist: Mehr als bisher.) Zweitens: Wenn sie uns mehr wert sind, wie können wir sie am besten unterstützen? Und drittens: Wie ist das schließlich zu finanzieren?

Investitionen in Kitas und Schulen

Christian Lindner liegt nicht falsch, wenn er darauf hinweist, dass Kinderarmut oft in Bildungs- und Erwerbsarmut der Eltern begründet sei und man also an die Ursachen herangehen müsse, zum Beispiel über Sprach- und Weiterbildungsangebote. Weitere Stichwörter liegen auf der Hand, finde ich: eine bessere Kinderbetreuung durch mehr Kita- und Ganztagsangebote; viel besser ausgestattete Schulen; Instrumente wie das Schüler-Bafög. Das wären Alternativen zu direkten Transferleistungen an ärmere Eltern, doch mehr Geld, lieber Herr Lindner, kosten die auch.

Kann ein Bundesfinanzminister im Jahre 2023 also nicht einmal darüber nachdenken, warum die kinderlose Ehe über das Ehegattensplitting noch immer massiv steuerlich gefördert wird? Und warum profitieren Spitzenverdiener überdurchschnittlich vom Kinderfreibetrag mit 354 Euro pro Monat und Kind, während Geringverdiener nur 250 Euro Kindergeld erhalten? Hier könnte der Staat ein paar Milliarden sparen. Nur sind unter den steuerlich derart Begünstigten vermutlich viele FDP-Wähler. Obwohl: So viele gibt es von denen ja bald ohnehin nicht mehr ...

Auf bald.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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