Essen. Es geht buchstäblich um Leben und Tod, und das polarisiert. Ist die Panzer-Koalition von Kanzler Scholz richtig – oder führt sie ins Verderben?

„Hinten sind die Enten fett.“ Vielleicht ist es dieses Zitat von Altkanzler Gerhard Schröder, an das wir jetzt denken sollten. Ganz ähnlich und ebenso wenig filigran hatte es ja schon sein Vorgänger Helmut Kohl ausgedrückt: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Ist es also das: ein großer diplomatischer Erfolg von Olaf Scholz, am Ende eine internationale Kampfpanzer-Koalition geschmiedet zu haben, am Ende all jene Lügen gestraft zu haben, die behaupteten, der Kanzler sei führungsschwach? Oder war es vielmehr so, dass Scholz ängstlich gezögert und gezaudert, dass er eine unausweichliche Entscheidung erst getroffen hat, als der Druck auf ihn aus dem In- und Ausland immer größer wurde – mit dem Ergebnis, dem Ansehen Deutschlands geschadet zu haben?

Ich will ganz ehrlich sein: Ich weiß es nicht. Niemand kann diesem Mann in den Kopf gucken. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr neige ich der ersten These zu. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass Scholz von Anfang an diesen Plan verfolgt hat, mit Sturheit, Beharrlichkeit und stoischer Ruhe der Ukraine diese besonderen Waffen zu besorgen, die einen wichtigen Unterschied ausmachen können, ohne dass dies ein Alleingang wird, ohne zu sehr zu riskieren, dass Deutschland ins Fadenkreuz der unberechenbaren Russen gerät.

„Vertrauen Sie der Bundesregierung!“

Ausschließen kann man letzteres freilich nicht. Was lässt sich schon ausschließen in diesen Tagen? „Vertrauen Sie mir, vertrauen Sie der Bundesregierung“, hat Scholz im Bundestag gesagt, direkt an die Bürgerinnen und Bürger gerichtet, die sich vor einer militärischen Konfrontation mit der Atommacht Russland fürchten. Die Bundesregierung werde sich auch künftig nicht treiben lassen, sondern stets „abgestimmt handeln“. Scholz weiß, wie sehr die Kampfpanzer-Frage die Bevölkerung bewegt und spaltet. Der Riss geht mitten durch die Gesellschaft, auch mitten durch unsere Leserschaft, wie die außergewöhnlich vielen Zuschriften zeigen, die uns in diesen Stunden erreichen.

Da sind jene, die Waffenlieferungen in die Ukraine grundsätzlich skeptisch beurteilen. Mit den Kampfpanzern würden wir „endgültig zur Kriegspartei, egal was das Völkerrecht sagt“, befürchtet etwa Meinolf Trondt aus Essen. „Wie will die Bundesregierung reagieren, wenn Putin Marschflugkörper Richtung Berlin abschießt?“, fragt er. Brigitte Wiesemann aus Gelsenkirchen drückt es noch drastischer aus: „Ich bin entsetzt! Jetzt steigt meine Angst vor einem neuen Krieg hier bei uns noch mehr an. Ich bin 85 Jahre alt, und die Erinnerungen an den letzten Krieg kommen immer wieder hoch.“ Maria Püttmann-Kluß aus Oberhausen ist überzeugt: „Eine Atommacht kann man nicht besiegen.“ Frieden erreiche man durch Friedensverhandlungen, „nicht mit Waffen“.

Scholz und seine Nicht-Kommunikation

Die Befürworter der Kampfpanzer-Lieferungen spalten sich derweil grob in zwei Lager. Rüdiger Meyer aus Mülheim etwa hält die Entscheidung von Scholz zwar für richtig. Sie komme aber viel zu spät: „Er musste vom Umfeld geradezu genötigt werden. Eine frühere Entscheidung und Lieferung hätte auf Seiten der Ukraine Tote und Schäden verhindert.“ Sehr viele Leser sind dagegen der Meinung, dass es keine Schwäche, sondern Stärke war, nicht vorschnell auf das Geschrei der Hofreiters und Strack-Zimmermanns gehört zu haben, die der Koalition und, schlimmer noch, Deutschland damit einen Bärendienst erwiesen hätten. Ulrich Müller aus Haltern etwa zeigt sich grundsätzlich „einverstanden“ mit der zurückhaltenden Entscheidungsfindung des Bundeskanzlers, kritisiert aber zugleich Defizite in der Kommunikation. Zwar sei verständlich, wenn Scholz bilaterale Gespräche mit den westlichen Partnern im Hintergrund führe, „aber dabei hätte er zumindest seine beiden Koalitionspartner stärker einbinden müssen“.

Ich meine auch, dass sich Scholz diesen Schuh anziehen muss. In einer parlamentarischen Demokratie, in der sich drei Parteien die Regierungsverantwortung teilen, können Fragen von Krieg und Frieden nicht Teil einer Ein-Mann-Show sein. Die Nicht-Kommunikation des Kanzlers wirkt ja nicht zum ersten Mal wie eine arrogante Provokation. Andererseits, und dass muss sich eine ebenso erfahrene wie in der Sache sehr engagierte Politikerin wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP vorhalten lassen: Ein Bundeskanzler verfügt naturgemäß über streng vertrauliche Informationen, über die andere nicht verfügen, auch nicht die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag.

Hat Putin Scholz gedroht?

Könnte es etwa sein, dass Scholz stets auch deshalb so vorsichtig und umsichtig agierte, weil der Kriegsverbrecher Putin ihm in den gemeinsamen Telefonaten eiskalt gedroht hat? Könnte es sein, dass Scholz stets abwägen musste und muss, ob es sich bei solchen Drohungen um einen Bluff oder eine ernste Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik handelt? Und wenn das so wäre: Ist es dann nicht nachvollziehbar, dass Scholz solche Umstände kaum öffentlich thematisieren kann, weil das dann aussieht, als ließe er sich erpressen – was wiederum eine unschätzbar wertvolle Erkenntnis für Putin wäre?

Vielleicht ist die vermeintliche Sprachlosigkeit des Kanzlers nur Ausdruck dessen, dass er seine Tassen im Schrank lässt statt damit polternd um sich zu werfen, so dass wir am Ende alle in einem Scherbenhaufen versinken. Hätte ein Bundeskanzler Friedrich Merz auch die Tassen im Schrank gelassen?

Scholz erfüllt seinen Amtseid

Ich nehme es Scholz ab, dass er nach bestem Wissen und Gewissen seinen Amtseid erfüllt. Ob er richtig liegt oder falsch, wird die Geschichte zeigen. Es ist jetzt rund acht Jahrzehnte her, dass Panzer aus Deutschland in jene sowjetischen Gebiete geschickt wurden, in denen nun der „Leopard“ zum Einsatz kommen soll. Da kann man schon einmal ins Grübeln darüber kommen, was das in Moskau und in den Köpfen der russischen Bevölkerung auslöst.

Die Maßlosigkeit der ukrainischen Regierung, die gefühlt Sekunden nach der Kampfpanzer-Entscheidung prompt Kampfjets, Kriegschiffe und U-Boote forderte, mag aus deren Sicht verständlich sein, ist aber vor dem Hintergrund der Geschichte Deutschlands und der Risiken, selbst Kriegspartei zu werden, schlicht daneben – und kommt in der Bevölkerung gar nicht gut an.

„Der kleine Nimmersatt Selenskyj“

„Der kleine Nimmersatt Selenskyj wird keine Ruhe geben“, scheibt uns zum Beispiel Johann Knoche aus Letmathe. Ute Wilke aus Duisburg drückt es mit Blick auf den früheren Botschafter in Deutschland und heutigen Vize-Außenminister der Ukraine, Andrij Melnyk, etwas weniger zynisch aus: „Wenn ich nun lese, dass Herr Melnyk jetzt die Lieferung von Kampfjets fordert, wird mir sehr bange, und ich hoffe, Herr Scholz bleibt besonnen.“

Und was sagt Joe Biden aus Washington? Der US-Präsident dankt Scholz für – Achtung! – seine „Führungsstärke“, und das hat Gründe: Das Ergebnis der Scholz-Diplomatie ist nämlich, dass die Ukraine jetzt mehr Kampfpanzer erhält, auch aus den USA, als wenn Deutschland unabgestimmt sofort gehandelt hätte. Auch das gehört zur Wahrheit.

Auf bald.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.

Klartext als Newsletter? Hier anmelden.