Essen. Wir sind ein Einwanderungsland, und das ist gut so. Dass Integration aber auch an kulturellen Hürden scheitert, ist wissenschaftlich belegt.

Manchmal macht es keinen Spaß. Bei der Einordnung der Silvesterkrawalle in Berlin-Neukölln und in vielen Städten des Ruhrgebiets gerät man mit der Frage, wer denn nun die Täter waren, sofort auf die schiefe Bahn – ob man will oder nicht.

Ein Leser beschwerte sich nach meiner jüngsten Klartext-Kolumne darüber, dass ich in scheinheiliger Weise die „Realität relativieren“ würde: „Tatsächlich haben wir es mit einem grundlegendem Problem zu tun, das sich aus der massenhaften Einwanderung von asozialem Pack in unser Land ableitet“, schrieb er. Rechtsextreme Hetzer oder Rassisten kenne er in unserem Land nicht. Ich habe ihm freundlich-verbindlich geantwortet: „Sie kennen keine Hetzer? Ich kenne jede Menge. Manche schreiben uns sogar.“

Nun, solche Mailwechsel sind Alltag. Weniger alltäglich ist es, wenn man als Verfechter einer liberalen Gesellschaft, in der es für alle verbindliche Spielregeln gibt, als Verfassungspatriot und glühender Anhänger unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung plötzlich selbst in die rechte Ecke gestellt wird, sobald man Dinge beim Namen nennt und damit ganz offenbar an Tabus kratzt. Da muss man sich belehren lassen, man würde durch Pauschalfeststellungen den bestens Integrierten in unserer Gesellschaft das Gefühl geben, nicht „dazuzugehören“ – obwohl es genau darum geht: diese bestens Integrierten zu schützen, die sich gerade bei uns im Ruhrgebiet wirklich überall finden lassen, die seit Jahrzehnten zum „Wir im Revier“ gehören.

Wir sind und bleiben Einwanderungsland

Nein, es waren eben nicht der griechische Gastronom aus Essen, nicht der Brautmodenverkäufer aus Duisburg oder der ehemalige, in Spanien geborene Kumpel aus Bochum, die Polizei und Feuerwehr in der Silvesternacht attackiert haben. Warum sollten sie das tun? Warum sollten sie zerstören, was sie sich und ihren Familien jahrzehntelang aufgebaut haben? Sie waren besonders sauer auf die Täter und forderten besonders harte Konsequenzen. Mehr Abgrenzung geht nicht. Wir haben darüber ausführlich berichtet und dies kommentierend eingeordnet.

Es ist gut, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Damals waren es die Gastarbeiter, die wir dringend brauchten und die einen großen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik hatten und haben. Und heute ist es eine qualifizierte Zuwanderung, die wir brauchen, um den Fachkräftemangel zu überwinden, aber auch den Mangel an Servicekräften, etwa im Hotel- und Gaststättengewerbe. Schwarz-Weiß-Betrachtungen helfen uns nicht weiter. Dazu gehört dann aber auch die Erkenntnis, dass es erhebliche Probleme mit Migration gibt. Und das muss man sagen dürfen, ohne mehr oder weniger offen als Rassist beschimpft zu werden.

Wer verfehlt hier das Thema?

Ich spreche über die Kindeskinder der früheren Gastarbeiter und über Flüchtlinge. Und ich spreche über Angehörige von Familienclans – ein Begriff, den die Grünen am liebsten verbieten würden, statt sich dem Problem zu stellen.

Viele Personen, die Polizei und Feuerwehr im Ruhrgebiet und in Neukölln angriffen, sollen einen Migrationshintergrund haben - nach übereinstimmenden Berichten von Einsatzkräften und belegt durch Videos. In Berlin gehörten zu den Festgenommenen der Polizei zufolge viele Afghanen und Syrer, mutmaßliche Flüchtlinge also – in aller Regel Menschen, die Schutz bei uns suchen und dann trotzdem ungeniert unsere staatlichen Institutionen angreifen.

Ferda Ataman, die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung, weiß das – und ist dennoch „irritiert“ über die Migrationsdebatte, wie sie vor einigen Tagen im ZDF sagte. Man möge doch bitte über „Jugendgewalt“ sprechen und nicht über Migration. Andere, die sich ähnlich irritiert zeigen, verweisen darauf, dass ja auch Deutsche dabei gewesen seien. Echt jetzt? Wohlgemerkt: Wir reden über Ereignisse mitten in Deutschland.

Keine Tassen im Schrank

Mich irritiert etwas anderes: der Mangel an Tassen in dem einen oder anderen Schrank.

Dazu gehört der Vollständigkeit halber freilich auch die CDU in Berlin, die anhand der Vornamen der in Neukölln Festgenommen prüfen will, ob jene mit deutscher Staatsangehörigkeit ausländische Vorfahren haben oder nicht. Solche Hans-oder-Ali-Anfragen kannte man bislang nur von der AfD.

In einem privaten Facebook-Post habe ich vor dem Hintergrund, dass fast alle Täter in der Silvesternacht männlich waren, folgendes geschrieben: „In migrantischen Familien werden junge Männer in der Sozialisation auch deswegen zu solchen Machos, weil das Frauen-Männer-Rollenverständnis hier noch stärker vom Gleichberechtigungs-Ideal abweicht als in der deutschen Gesamtgesellschaft.“ Prompt schrieb mir ein verärgerter Facebook-Freund zurück: „Es sind leider solche Sätze, die seit Jahrzehnten hier sehr gut integrierten Familien mit Migrationshintergrund die Galle hochkommen lassen. Was ist so schwierig daran, den Satz so zu formulieren, dass er richtig ist: Es gibt migrantische Familien, in denen......? Warum immer wieder diese falsche Generalisierung, die das eigentliche Problem noch vergrößert?“

Vormodernes Rollenverständnis

Ich habe verstanden, was er meint – aber sein Formulierungsvorschlag ist nicht die Lösung. Wenn überhaupt müsste es heißen: In überdurchschnittlich vielen migrantischen Familien ...

Wenn wir uns über das Selbstverständnis junger Männer unterhalten, dann sagt uns die Forschung, dass wir es bei Menschen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich oft mit einem vormodernen Verständnis von Rollenbildern zu tun haben. Und ja, das gibt es auch in deutschen Familien, wir sprechen hier aber über Durchschnittswerte. Aufschlussreich ist in dem Zusammenhang der „Monitor Familienforschung“ des Bundesfamilienministeriums. Der verweist auf unterschiedliche Wertvorstellungen, die unter anderem religiös motiviert sind.

Beispiele gefällig? Der Position, dass die Hausarbeit in Familien hauptsächlich von Frauen erledigt werden sollte, stimmen demnach 9 Prozent der deutschen Befragten zu und 20 Prozent der Migrantinnen und Migranten. Dass der Mann die Familie nach außen repräsentiert, finden 19 Prozent der deutschen Befragten richtig und 34 Prozent der migrantischen. Das alles ist wissenschaftlich belegt, es ist nachzulesen. Es gibt also kulturell bedingte Unterschiede, die nicht unter den Teppich gekehrt werden sollten.

Ob mein Facebook-Freund damit klar kommt?

Auf bald.

Im ursprünglichen Text hieß es, 145 Menschen seien in Neukölln festgenommen worden, darunter 111 mit Migrationshintergrund. Die Polizei hat die Zahlen inzwischen zurückgezogen.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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