Essen. Das Bürgergeld als Nachfolge-Regelung von Hartz IV setzt völlig falsche Anreize. Am Ende könnten sogar die Clans in Essen davon profitieren.
Dass die gute alte Tante SPD, die lange auf der Intensivstation lag und inzwischen wieder bedenkliche Umfragewerte erreicht, derzeit den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland stellt, könnte sich dereinst als Unfall der Geschichte herausstellen – ein Unfall, der mehr mit der Schwäche einer Armin-Laschet-CDU zu tun hatte als mit der Stärke der Sozialdemokraten. Die wiederum möchten, dass ihr Olaf Scholz auch über eine Legislaturperiode hinaus Kanzler bleibt. Daher müssen sie unbedingt das loswerden, was für ihren Niedergang steht wie nichts Anderes: Hartz IV.
Hartz IV ist für die Genossinnen und Genossen der Inbegriff des politischen Siechtums. Das Bürgergeld, das im kommenden Jahr Hartz IV ablösen soll, als „Prestigeprojekt“ der SPD innerhalb der Ampelkoalition zu bezeichnen, wie es Kritiker tun, ist insofern eher eine Verharmlosung. Für die Strategen im Willy-Brandt-Haus ist das Bürgergeld viel mehr: eine Reinwaschung, eine Überlebens-Versicherung, eine dringend erforderliche Annäherung an die einstige Kernklientel, nicht zuletzt auch im Ruhrgebiet. Denn Hartz IV wurde und wird ja vor allem in der Mittelschicht als Bedrohung wahrgenommen. Wer seinen Job verliert und nicht schnell wieder eine Anstellung findet, der kann buchstäblich alles verlieren.
Wüst solle sich „schämen“
Kein Wunder also, dass die Kritik an NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, der mit dem Bürgergeld in der geplanten Form nicht einverstanden ist, aus den Reihen der Sozialdemokraten bemerkenswert schrill ausfällt. Der CDU-Mann stellt als Anführer des christdemokratischen Blocks im Bundesrat eine Gefahr für das Bürgergeld dar. Das entsprechende Gesetz ist zustimmungspflichtig, kann also nicht mal eben schnell mit einer Mehrheit der Stimmen im Bundestag verabschiedet werden. Schon spricht die SPD von einer „Blockade“ auf Kosten der Ärmsten. Wüst solle sich „schämen“, wetterte SPD-Oppositionsführer Thomas Kutschaty im NRW-Landtag. Dabei hat Wüst gute Gründe für seine ablehnende Haltung, sehr gute sogar.
Der wichtigste Knackpunkt beim neuen Bürgergeld ist die fehlende Balance aus „Fördern“ und „Fordern“, die den wirtschaftspolitischen Erfolg als Folge der damaligen „Agenda 2010“ Gerhard Schröders ausgemacht hat. Wo Hartz IV, so bitter es im Einzelfall war und ist, die richtigen Anreize setzt, setzt das Bürgergeld nun die falschen.
Luxus-Wohnungen für Arbeitslose?
Stichwort Wohnungsgröße. Wer eine sehr große und entsprechend teure Wohnung besitzt, kann in den ersten beiden Jahren des Bürgergeld-Bezugs in dieser Wohnung bleiben, denn die tatsächlichen Wohnkosten werden erst einmal übernommen. Das bedeutet im KIartext, dass Erwerbstätige, die in bescheidenen Wohnverhältnissen wohnen, im Extremfall das luxuriöse Wohnen eines Erwerbslosen mitfinanzieren.
Stichwort Karenzzeit. In den ersten sechs Monaten des Bürgergeld-Bezugs sollen die Jobcenter möglichst keine Sanktionen aussprechen, etwa dann, wenn der Bezieher eine zumutbare Arbeit abgelehnt hat. Experten befürchten, dass sich manch einer entsprechend Zeit lässt, statt nun möglichst schnell wieder einer geregelten Arbeit nachzugehen. Denn Arbeit gibt es ja schließlich genug, wie man beispielsweise an den fehlenden Servicekräften in der Gastronomie sehen kann.
150.000 Euro Schonvermögen?
Stichwort Schonvermögen. Eine vierköpfige Familie könnte, zumindest rechnerisch, 150.000 Euro auf der hohen Kante haben und im eigenen Haus leben – und würde trotzdem Bürgergeld beziehen, weil dieses „Schonvermögen“ zunächst einmal geschützt wäre. Das bringt viele Menschen, die weder ein eigenes Haus noch so viel Vermögen besitzen, den ganzen Spaß aber über ihre Steuern mitfinanzieren sollen, zurecht auf die Palme.
Zugegeben: Der Fall ist konstruiert und dürfte nicht allzu oft vorkommen. Wer aber beispielsweise an die Clans in Essen und anderswo im Ruhrgebiet denkt, die ungeniert Sozialleistungen in Anspruch nehmen, obwohl sie in Saus und Braus leben, der stellt sich schon die Frage, ob die Erfinder des Bürgergelds bei der Festlegung des Schonvermögens wirklich alle Tassen im Schrank hatten. Wollen wir dem Staat ernsthaft die Möglichkeit nehmen, offensichtlichem Missbrauch einen Riegel vorzuschieben?
Lohnt sich Leistung noch?
Nein, es geht hier nicht um „Sozialneid“. Es geht um Gerechtigkeit, auch und gerade der arbeitenden Bevölkerung gegenüber. Es ist ja schon länger eine schreiende Ungerechtigkeit, dass Bezieher von Einkommen aus Arbeit überdurchschnittlich hoch besteuert und damit für ihre Leistung quasi bestraft werden, während jene, die geerbt haben und/oder Einkommen aus Kapital beziehen, vergleichsweise verschont bleiben. Die Schonvermögen-Regelung beim Bürgergeld passt in dieses Schema, denn woher Vermögen und/oder Immobilien stammen, ist hierfür unerheblich.
Letztlich geht es der Koalition wohl auch darum, einen komfortableren Weg für Frühverrentungen zu schaffen, mit dem Bürgergeld also eine Schieflage in einem ganz anderen Bereich teilweise zu heilen. Wie das geht? Ganz einfach: Wer als Älterer nicht mehr arbeiten kann oder will, bezieht bis zu zwei Jahre das Arbeitslosengeld I. Dann könnte das Bürgergeld für weitere zwei Jahre folgen, ohne dass das Ersparte aufgebraucht und die eigene Wohnung gefährdet würde. So ließen sich satte vier Jahre bis zu einem Rentenbeginn überbrücken.
Lohnt sich Arbeit noch?
Lohnt es sich also noch zu arbeiten? Die Antwort lautet: ja und nein. Erwerbstätige haben, entgegen mancher Behauptungen, immer grundsätzlich mehr Einkommen als Hartz-IV- oder Bürgergeld-Bezieher; es gibt immer einen Lohnabstand, der den belohnt, der arbeitet. Dafür sorgt der im Gesetz verankerte Erwerbsfreibetrag. Erwerbstätige, die aus eigener Kraft ihre (angemessene) Wohnung nicht mehr bezahlen können, müssen allerdings selbst ergänzende Sozialleistungen beantragen wie etwa Wohngeld. Tun sie das nicht – und nur dann –, könnte ein Arbeitsloser mit Bürgergeld theoretisch besser dastehen als ein Erwerbstätiger mit Mindestlohn. Richtig ist aber eben auch: Mit steigender Grundsicherung nimmt der Abstand zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen mit geringem Einkommen ab.
Hendrik Wüst sollte darum hart bleiben; das Gesetz gehört nachgebessert. Es ist zum Beispiel nicht einzusehen, warum es die Zuverdienstmöglichkeiten für erwachsene Leistungsbezieher nicht ausweitet. Der Koalitionsvertrag mit den Grünen wird dazu führen, dass sich NRW in der kommenden Woche im Bundesrat enthalten muss. Und doch ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass das Gesetz am Ende im Vermittlungsausschuss landet, und da gehört es auch hin – trotz einer heftigen Nebenwirkung: Die wegen der Inflation dringend notwendige Erhöhung der Hartz-Regelsätze wird sich dadurch wohl verzögern.
Schuld daran ist nur die SPD
Schuld daran, das wusste schon Rudi Carell, als er einst den verregneten Sommer besang, ist übrigens nur die SPD. Denn sie hat darauf geachtet, dass die Erhöhung der Regelsätze an die Verabschiedung des neuen Bürgergeld-Gesetzes gekoppelt wird, was ihr ein gewisses Erpressungspotenzial gegenüber der CDU beschert. Die könnte man dann nämlich verantwortlich machen für den sozialen Missstand, der sich aus jeder Verzögerung ergibt.
Ein „perfider Plan“ sei das, wetterte vor einigen Tagen Essens Sozialdezernent Peter Renzel, ein CDU-Mann, der das Bürgergeld „richtig schlecht“ findet und der für gewöhnlich so spricht, wie man im Ruhrgebiet gerne spricht: klar, laut und pointiert.
Auf bald.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.
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