Düsseldorf. Neue Kultur im Jobcenter oder Ungerechtigkeit gegenüber arbeitenden Geringverdienern? NRW-Koalition ringt mit dem Hartz IV-Nachfolger.
Vier Monate nach Amtsantritt muss sich die schwarz-grüne Landesregierung wohl erstmals bei einer wichtigen Abstimmung im Bundesrat enthalten. In der Diskussion über das von der Ampel-Koalition in Berlin geplante „Bürgergeld“, das zum Jahreswechsel Hartz IV ablösen soll, werden CDU und Grüne voraussichtlich die „Koalitionskarte“ ziehen. Das heißt: Wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten der Regierungspartner müsste sich ausgerechnet NRW als bevölkerungsreichstes Bundesland der Stimme enthalten.
Schwarz-Grün lasse sich dadurch aber nicht auseinanderdividieren, betonte Grünen-Sozialpolitikerin Jule Wenzel am Donnerstag im Landtag: „Denn es ist in der Koalition selbstverständlich, dass wir bei Vorhaben, bei denen wir unterschiedlicher Auffassung sind, das auch aushalten.“ NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) erklärte, es sei „keine Blockadehaltung“, wenn in einem Verfassungsgremium wie dem Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat noch einmal inhaltlich über eine solch weitreichende Sozialreform diskutiert werde.
Hohes Schonvermögen ist hochumstritten
Die neue Grundsicherung soll die bisherigen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter deutlich abschwächen. In den ersten sechs Monaten des Bürgergeld-Bezugs plant die Ampel etwa eine „Vertrauenszeit“, in der keine Sanktionen mehr zu befürchten wären. In den ersten zwei Jahren ist zudem eine „Karenzzeit“ vorgesehen, in der Kosten für Unterkunft und Heizung vom Staat in tatsächlicher Höhe übernommen werden und bei einer vierköpfigen Familie Vermögen von 150.000 Euro plus Altersvorsorge unangetastet bleiben könnte.
Die Union läuft seit Tagen Sturm gegen das Bürgergeld, das Fehlanreize für den Arbeitsmarkt setze und ein Ungerechtigkeitsgefühl in unteren Einkommensgruppen hervorrufen könnte. Auch der ansonsten auf Ausgleich bedachte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hatte sich am Sonntag ungewohnt pointiert gegen die Sozialleistung in Stellung gebracht: „Ich finde es nicht gerecht, dass Menschen auf Kosten derer, die fleißig arbeiten gehen, ziemlich lange nicht mitwirken müssen und ein ziemlich hohes Schonvermögen haben.“
SPD-Oppositionsführer Thomas Kutschaty ätzte daraufhin im Landtag: „Der alte Hendrik Wüst ist wieder zurück.“ Er spielte damit auf Jugendsünden des heutigen Regierungschefs an, mit denen er als konservativer Haudrauf vor 15 Jahren gerne die Schlagzeilen suchte. Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in NRW, Anja Weber, ärgerte sich ebenfalls über Wüsts Tonlage: „Statt notwendiger Unterstützung wird eine Sozialneiddebatte vom Zaun gebrochen.“
Laumann als soziales Gewissen der Union hat Bedenken
Aber selbst Arbeitsminister Laumann, der als soziales Gewissen der Union gilt und als letzter Malochertyp in der Spitzenpolitik hohe Glaubwürdigkeit an den Werkbänken besitzt, meldet beim Bürgergeld deutlich Bedenken an. Niemand in der CDU sei gegen die vorgesehene Anhebung des Regelsatzes von 450 auf 502 Euro monatlich. Aber es müsse neben der Perspektive der Leistungsempfänger auch jene von Geringverdienern in den Blick genommen werden, die über ihre Steuern das Bürgergeld finanzieren müssen. Das Problem: Die Sozialleistung plus Kindergeld und beheizte Wohnung reicht oftmals an das heran, was arbeitende Menschen in unteren Einkommensgruppen zur Verfügung haben.
Bei der Karenzzeit wirbt Laumann dafür, „dass man ein bisschen differenziert zwischen Menschen, die geleistet haben, und Menschen, die noch nie geleistet haben“. Wer also als Soloselbstständiger oder älterer Arbeitnehmer nach jahrelanger Berufstätigkeit unverschuldet in die Grundhilfe rutscht, würde besser gestellt als eine ungelernte Kraft, die noch nie einer geregelten Tätigkeit nachgegangen ist.
Geldanlagen, die der Alterssicherung dienen, müssten nach Laumanns Auffassung länger unangetastet bleiben. Aber weiteres Schonvermögen sei schwer zu vermitteln. Viele Leute, die Hartz IV finanzieren, könnten von einem solchen Vermögen nur träumen, warnte Laumann. Aus den Jobcentern wisse er zudem, dass Sanktionsmöglichkeiten durchaus ihre Berechtigung hätten, wenn Leistungsbezieher etwa Termine platzen ließen: „Das ist natürlich nicht die Regel, aber das gibt es“, sagte der Minister.
Grüne freuen sich über neues Miteinander im Jobcenter
Die Grünen sehen das anders: „Ich freue mich, dass mit der Reform auch ein neues Miteinander in den Jobcentern angestoßen wird“, sagte die aus Duisburg stammende Sozialpolitikerin Wenzel. Sanktionen führten bloß dazu, „dass Betroffene eingeschüchtert und stigmatisiert werden“. Es müsse darum gehen, dass sich Menschen darauf konzentrieren könnten, schnell wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen „und sich nicht darum sorgen müssen, ihr gewohntes Umfeld zu verlassen oder ihre Altersversorgung aufzugeben“.
SPD-Mann Kutschaty kritisierte den Regierungspartner im Bund dafür, im Land nicht hartnäckig genug für das Bürgergeld zu kämpfen: „Wird NRW nur noch schwarz regiert oder haben die Grünen auch noch etwas mitzubestimmen?“
Das neue Bürgergeld soll kommende Woche im Bundestag beschlossen werden. Danach muss noch der Bundesrat entscheiden. Wenn die Sozialreform in der Länderkammer keine Mehrheit bekommt, wonach es wegen der Widerstände in der Union aussieht, müsste der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat angerufen werden. Ein dort ausgehandelter Kompromiss müsste dann erneut von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden. Das geplante Inkrafttreten am 1. Januar 2023 wäre damit schwer zu halten.