Essen. Der Bundeskanzler stellt sich am Donnerstag den Fragen von 150 Bürgerinnen und Bürgern in Essen. Gerade im Ruhrgebiet gibt es nur ein Thema.
„Es war eine gute, sehr kluge Diskussion – es war ein schöner Abend auch für mich.“ Einen schönen Abend hatte er also, der Bundeskanzler, bei seinem zweiten „Kanzlergespräch“ in Magdeburg am vergangenen Donnerstag. 90 Minuten lang stellte sich Olaf Scholz Fragen von 150 Bürgerinnen und Bürgern, die sich im Vorfeld für die Teilnahme bewerben mussten und ausgelost wurden. Das „Kanzlergespräch“ ist ein Format, mit dem Olaf Scholz mit den Menschen in allen 16 Bundesländern ins Gespräch kommen will. Der Auftakt zur Reihe war Mitte Juli in Lübeck. Jetzt Donnerstag, eine Woche nach Magdeburg, kommt er nach Essen, ins Herz des Ruhrgebiets. Ob es wieder ein „schöner Abend“ wird?
In wenigen Regionen Deutschlands gibt es so viel geballte Armut wie im Ruhrgebiet. Mehr als jeder fünfte Einwohner des Ruhrgebiets gilt dem Caritasverband für das Bistum Essen zufolge als arm. Besonders betroffen sind die Kinder. Mehr als jedes vierte Kind unter 15 Jahren in Bochum wird in einem Hartz-IV-Umfeld groß.In keiner deutschen Stadt neben Bremerhaven ist mit rund 42 Prozent das Kinder-Armutsrisiko höher als in Gelsenkirchen. Die Armen gilt es, im Blick zu haben, wenn die Preise für Lebensmittel und Energie ins Unermessliche steigen – so weit, dass manche im Winter frieren werden und nicht mehr genug zu essen haben. Dann drohen soziale Unruhen, wie sie Deutschland noch nicht gesehen hat.
Der Kanzler und das Volk
Es könnte also ungemütlich werden für den Kanzler in Essen, wenn es um die Frage geht, was die Regierung eigentlich tut, um die Wirtschafts- und Energiekrise sozial abzufedern. Umso bemerkenswerter ist, finde ich, dass er trotzdem nach Essen kommt, dass er sich den kritischen Fragen stellt, jetzt, zu Beginn der Veranstaltungsreihe, ausgerechnet hier. Alle Themen sind zugelassen, alle Fragen können gestellt werden; der Kanzler weiß vorher nicht, was die Menschen ansprechen, wenn er da mit dem Mikrofon in der Hand in der ersten Etage im Sanaa-Kubus auf Zeche Zollverein steht. Es gibt keine Bühne, alles ist ebenerdig. Der Kanzler und die vom Bundespresseamt gestellte Moderatorin stehen in der Mitte, umrundet von den sitzenden Bürgerinnen und Bürgern. Es soll auf Augenhöhe laufen. Ein Kanzler zum Anfassen, live gestreamt auf waz.de, von 18 Uhr bis 19.30 Uhr.
Ein Kanzler zum Anfassen? Na ja, wir wollen nicht übertreiben, denn das ist Scholz natürlich nicht, und das wird er auch nie werden. Er strahlt eher diese typisch hanseatische Kühle aus. Selbst wenn er lächelt, wirkt er irgendwie muffig. Manche halten ihn sogar für arrogant – dabei ist er das wahrscheinlich gar nicht. Aber jemand, der so kommuniziert, wie er kommuniziert, wirkt schnell so. Kommunikation – das ist das Hauptproblem dieses Kanzlers, der sich und seiner Regierung damit immer wieder selbst im Weg steht. Jetzt ganz nah bei den Bürgern zu sein, so nah, wie es ein Olaf Scholz vermag, ist sicher kein falsches Rezept. Ob es wirkt, wird sich zeigen.
Schirmständer „Olaf“
Kennen Sie „die Ampel-WG“? Es handelt sich um eine tägliche Comedy-Reihe auf WDR 2. Stimmen-Imitatoren erzählen vom fiktiven Zusammenleben der Lindners, Baerbocks, Habecks und Lauterbachs dieser Welt. Auch Scholz kommt vor, aber nur in einer Nebenrolle, denn er spricht nicht viel. Ihn verwechseln die quirligen WG-Bewohner in der Regel mit Möbelstücken – und sind dann ganz erstaunt, wenn der vermeintliche Schirmständer oder das vermeintliche Wandregal plötzlich ein kurzes „Ja“ oder „Nein“ oder „Macht nichts“ ausstößt. Es ist eine Karikatur, das ist klar, aber es steckt mehr als nur ein bisschen Wahrheit darin.
Statt an der Spitze einer „Fortschrittskoalition“ voranzuschreiten (als solche verstand und versteht sich die Ampel ja), die mit Dynamik und Entschlossenheit die Probleme dieser Welt löst, wirkt Scholz stellenweise wie erstarrt. Ständig muss er hinter sich herräumen, sich erklären und beschwichtigen. In der Cum-ex-Affäre präsentiert er Gedächtnislücken, die man ihm abnehmen kann oder auch nicht; Palästinenserpräsident und Juden-Hasser Mahmoud Abbas widerspricht er nicht sofort, wenn der im Kanzleramt von 50 israelischen Holocausts schwadroniert; im Regierungsflieger ist er ohne Maske unterwegs, was mehr als abgehoben wirkt. Und dann benehmen sich die Koalitionäre zunehmend nicht wie Partner, die Deutschland geschlossen aus einer der schlimmsten Krise führen wollen, sondern wie ungezogene Bengel, die sich auf dem Schulhof prügeln.
Kriegskanzler wider Willen
Man muss natürlich zur Ehrenrettung von Scholz und der Ampel sagen: Für den Krieg, den Putin gegen die Ukraine und die westliche Welt führt, können sie nichts. Dass Scholz nach dem Kanzler der Einheit und der Krisenkanzlerin als Kriegskanzler in die bundesdeutsche Geschichte eingehen könnte, hat er sich nicht ausgesucht und bestimmt nicht gewünscht. Statt Milliarden in die Bundeswehr und in Entlastungspakete für die gebeutelten Bürgerinnen und Bürger zu stecken, hätte er lieber beim Klimaschutz, fast hätte ich geschrieben: Gas gegeben. Es ist nun anders gekommen.
Bleiben wir beim Gas. Da beschließt die Koalition eine Gasumlage zur Rettung der Gas-Versorger. Kann man so machen. Doch dann fällt ihr plötzlich ein, dass sie die höhere Mehrwertsteuer, die noch zur Gasumlage dazukommt, gar nicht kassieren will. Also senkt sie die Mehrwertsteuer befristet. Viel besser wäre gewesen, die Regierung hätte Be- und Entlastungen im selben Moment verkündet. Es entsteht der Eindruck von: Chaos. Dann geht es weiter. Es fällt auf, dass von der Gasumlage nicht nur notleidende Versorger profitieren, sondern auch Unternehmen, die auf das Geld gar nicht angewiesen sind. Auch hier muss nun nachgebessert werden.
Wenn sogar Merz vor Scholz liegt ...
Drei Missstände lassen sich hier symptomatisch feststellen. 1. Die Kommunikation ist schlecht. 2. Es werden in der Eile handwerkliche Fehler gemacht. 3. Statt die Fehler gemeinsam zu beseitigen und solidarisch zu sein, spielen SPD, FDP und Grüne das Schwarze-Peter-Spiel und lassen den beliebtesten Minister, Vizekanzler Robert Habeck, prompt im Regen stehen – sehr zur Belustigung der „Schwarzen“ in der Opposition. Als hätten Scholz und FDP-Finanzminister Christian Lindner mit der Gasumlage nichts zu tun!
Dass die Bürger inzwischen sogar einen Friedrich Merz einem Olaf Scholz als Kanzler vorziehen würden, ist schon sehr bemerkenswert und liegt nicht so sehr an der „Performance“ des CDU-Partei- und Fraktionschefs. Es sei vielmehr die „schlechte Performance des Bundeskanzlers“, die für „seine miesen Umfragewerte“ sorgten, besudelte jetzt geradezu formvollendet der Grüne Konstantin von Notz das eigene Koalitionsnest – was auf eine durchgebrannte Sicherung des guten Mannes schließen lässt oder schlicht darauf, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat.
Warten auf das dritte Entlastungspaket
Was jetzt noch helfen könnte? Ein Befreiungsschlag! Ein drittes, bazookaartiges Entlastungspaket! Der große Wurf, der den Menschen im Ruhrgebiet und anderswo zeigt: You’ll Never Walk Alone! Die Hoffnung stirbt zuletzt. Doch wann immer Scholz in den vergangenen Wochen gefragt wurde, wann dieses dritte Paket denn nun komme und was es beinhalte, brachte er den Fragesteller zur Verzweiflung, indem er länglich erklärte, was die Regierung mit den ersten beiden Paketen schon alles auf den Weg gebracht habe.
Was will, was kann die Koalition noch leisten? Was will, was kann Scholz? Was beschließt die Regierung konkret auf ihrer Klausur auf Schloss Meseberg? Inzwischen wissen wir: Noch nichts, was sich konkret verkünden ließe. Ein „wuchtiges“ Paket solle es werden, verkündete Finanzminister Lindner am Mittwoch. Scholz sprach unterdessen von einem „sehr präzisen“ Paket – und verzichtete auf Präzisierungen.
Ob Scholz am Donnerstag in Essen Klartext spricht? Auf waz.de lässt sich das Kanzlergespräch live verfolgen. Für Samstag dann ist die Veröffentlichung eines Exklusiv-Interviews der WAZ mit dem Bundeskanzler geplant. Es bleibt spannend. So spannend, wie es mit Scholz sein kann.
Auf bald.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.
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