Essen. Wir stehen zusammen – das macht stolz. Doch wie groß ist die Gefahr eines Weltkriegs? Putin folgt einer riskanten Strategie aus der Spieltheorie.

So eine Smartwatch ist ja Fluch und Segen zugleich. Es ist gut, dass man nichts Wichtiges verpasst. Und es ist schlecht, dass man nichts Wichtiges verpasst. Als ich am Sonntagnachmittag in meinem Garten stand, in die Sonne blinzelte und überlegte, wo ich meine neue Kletterrose einbuddeln sollte, kündigte meine Uhr durch ein subtiles Tippen aufs Handgelenk eine Eilmeldung an: „Putin versetzt Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft“, stand auf dem Display. Fast wäre mir die Schaufel aus der Hand gefallen. Ich stand wie angewurzelt in der Landschaft. Ausgerechnet in dem Moment kam mein achtjähriger Sohn um die Ecke gepoltert: „Na, was geht ab?“ Ich erwiderte: nichts. „Was ist, Papa?“ „Alles in Ordnung, ich war nur in Gedanken.“ Immerhin der zweite Satz entsprach der Wahrheit.

Der Schock sitzt tief und dauert an. Ich weiß, dass ein alles vernichtender Atomkrieg äußerst unwahrscheinlich ist, auch jetzt. Doch ich weiß auch, dass es ein schwer zu begreifendes Restrisiko gibt, und das weckt Ängste – Ängste, die mich ärgern. Denn genau darum geht es einem Staatsterroristen wie Putin ja: Wir sollen Angst bekommen. Der Kerl weiß sehr gut, dass seine Drohungen auf fruchtbaren Boden fallen. Nach zwei Jahren Pandemie, zwei Jahren Krise, zwei Jahren Dauerstress liegen die Nerven in vielen Familien blank. Da hat dieser roboterhafte, breitbeinige Giftzwerg mit seinem Finger am atomaren Abzug gerade noch gefehlt.

Hat Putin noch alle Matroschkas im Schrank?

Was treibt den Mann an? Ist er böse? Hat er nicht mehr alle Matroschkas im Schrank? Oder ist es beides? Unterschätzen, die bittere Erfahrung haben wir nun alle gemacht, sollte man ihn freilich nicht.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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Ich stolpere beim Lesen über einen Begriff aus der Spieltheorie: Brinkmanship (englisch für „Spiel mit dem Feuer“ oder „Politik am Rande des Abgrunds“). Wer darauf aus ist, seinen Gegner zum Nachgeben zu bringen, führt ihn Schritt für Schritt an den Rand eines Abgrunds („brink“). Es wird mit Absicht ein immer weniger kontrollierbares Risiko geschaffen, dass beide Parteien gemeinsam in den Abgrund stürzen können. Am Ende soll der Gegenspieler aus Angst vor dem gemeinsamen Absturz nachgeben. Der Gegner – das sind wir, der Westen, die freien und demokratischen Gesellschaften.

Das prominenteste Beispiele für diese Art der Politik stammt aus dem Kalten Krieg: In der Kubakrise 1962 beginnt die Sowjetunion als Reaktion auf die Stationierung amerikanischer Atomraketen in der Türkei damit, Atomwaffen auf Kuba zu stationieren. Das will die US-Regierung unter Präsident Kennedy unbedingt verhindern. Er droht Staats- und Parteichef Chruschtschow mit einem Atomkrieg für den Fall, dass die Sowjetunion ihre Atomwaffen nicht aus Kuba zurückzieht, und setzt sich damit letztlich durch. Der Einsatz war denkbar hoch. Nie wieder stand die Welt derart kurz vor dem atomaren Overkill.

Selenskyi: Vom Clown zum Staatsmann

Frieden in Europa? Frieden in Deutschland? Es ist keine Selbstverständlichkeit. In zahlreichen Sonntagsreden wurde darauf hingewiesen: Frieden, Freiheit und Demokratie muss man sich immer wieder neu erarbeiten und verteidigen. Das wird uns nun schlagartig klar. Es ist nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie nun schon die zweite Katastrophe innerhalb weniger Jahre, die wir im Grunde für praktisch nicht möglich gehalten haben. Ein Virus, das die ganze Welt bedroht? Ein Diktator, der den Dritten Weltkrieg anzetteln und uns mit Tod und Vernichtung überziehen kann? Das gibt es doch nur in Hollywood?! Ich jedenfalls wache morgens wieder mit dem Gedanken auf, dass das alles doch wohl nicht wahr sein kann.

Aber es gibt auch Dinge, die mich beruhigen, die mich aufmuntern. Da sind zunächst einmal die tapferen Ukrainer, die Widerstand leisten, die ihr Land, ihre Freiheit verteidigen, mit einfachen, aber effektiven Mitteln. Da ist der besonnene und mutige ukrainische Präsident Selenskyi, der mal ein Clown war, und jetzt ein Staatsmann ist, zu dem man aufblicken kann. Da ist eine Europäische Union, die endlich zusammensteht, wenn es existenziell wird. Da ist eine Bundesregierung, die in einer historischen Stunde jahrzehntelange vermeintliche oder tatsächliche Gewissheiten in der Außen- und Sicherheitspolitik über Bord wirft und damit auf der richtigen Seite der Geschichte steht. Und da sind die Unionsparteien, die in dieser Situation auf Opposition verzichten und solidarisch an der Seite der Regierung stehen.

Ich bin stolz, Bürger dieses Landes zu sein

Ich habe am Sonntag die Kletterrose sich selbst überlassen und mir lieber die Bundestagssitzung angesehen. Ich habe Bundeskanzler Scholz zugehört, Außenministerin Baerbock, Finanzminister Lindner und dem CDU-Vorsitzenden und Unions-Fraktionschef Merz. Ich war stolz darauf, Bürger dieses Landes zu sein.

Ja, ich weiß, man kann es auch anders sehen: dass es hochnotpeinlich war, wie sich Scholz über Wochen geziert hatte, den Begriff „Nord Stream 2“ auch nur in den Mund zu nehmen; dass die Rufe Kiews nach Waffen wochenlang gekontert wurden mit dem Hinweis darauf, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern; dass Berlin sich erst ganz zum Schluss dazu durchrang, den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem zu unterstützen. Andererseits: War es nicht ein Ausdruck von Besonnenheit, selbst nicht zu sehr an der Eskalationsspirale zu drehen, der Diplomatie buchstäblich bis zur letzten Minute eine Chance zu geben und auf den traditionell engeren Draht Berlins zu Moskau zu setzen? Erst als wirklich alle Türen geschlossen waren und deutlich wurde, wie dreist Putin Scholz und zuvor Macron im Kreml ins Gesicht gelogen hatte, war Schluss mit lustig.

Die Grüne Jugend bekommt Schnappatmung

100 Milliarden Euro für die Bundeswehr? Ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal gut und richtig finden würde. Über die Laufzeit-Verlängerung von Kohle- und Atomkraftwerken nachdenken? Nichts ist mehr tabu. Große Teile der Grünen Jugend und anderer „Fundi“-Gruppen bei den Grünen mögen Schnappatmung kriegen. Aber die Parteiführung ist pragmatisch unterwegs. Der Klimawandel läuft ihr und uns nicht weg – leider –, und es mag ein Trost sein, dass ausgerechnet der Gas-Lieferant Putin die Energiewende in Deutschland hin zu den Erneuerbaren maximal befeuert. Heute verschwindet Gazprom von den Schalke-Trikots und morgen aus unseren Gasleitungen und Heizthermen. Ich kann es kaum erwarten.

Verschwinden dürfen übrigens auch die Putin-Versteher aus den Reihen der Linkspartei und der AfD. Vielleicht gewährt ihr brutaler Freund ihnen ja ein warmes Asyl in Moskau. Sahra Wagenknecht kann sich bei der Gelegenheit einmal von Wladimir Wladimirowitsch erklären lassen, warum er die Ukraine nun doch überfallen hat. Schließlich hatte sie sich noch kurz vorher in einer Talkshow felsenfest davon überzeugt gezeigt, dass Russland keinen Einmarsch plane. AfD-Chef Chrupalla (das ist jener Nationalist, der einem Kinderreporter auf Nachfrage nicht ein deutsches „Lieblingsgedicht“ nennen könnte) kann den missratenen Rosa-Luxemburg-Verschnitt gleich mitnehmen. Nach Putins Attacke auf die Ukraine hatte Chrupalla gefordert, man müsse dem „russischen Partner“ endlich „glaubwürdige Angebote“ machen. Echte Fründe ston zesamme!

Gerhard Schröder endlich rausschmeißen!

Ach ja, und wann genau schmeißt die SPD endlich Gerhard Schröder mit einem lauten „Basta!“ aus der Partei? Dessen Kumpanei mit dem „lupenreinen Demokraten“ Putin ist ebenso traurig wie widerlich.

Auf bald.