Essen. Das Wort des Jahres ist Verpflichtung für uns alle. 2G nutzt nichts, wenn wir die Regeln nicht achten. Aber: Ein neues Wir-Gefühl macht Hoffnung.

Hand aufs Herz: Sind Sie schon einmal über eine rote Ampel gefahren? Ich muss ehrlich zugeben, dass die Versuchung neulich groß war. Ich stand an dieser roten Ampel an einer kleinen, gut einsehbaren Kreuzung in einem Dorf mit hochgeklappten Bürgersteigen kurz vor Mitternacht. Keine Menschenseele, nirgends. Die Ampel war nicht nur einfach rot. Sie war sehr lange rot. Penetrant lang. Zwei Dinge schossen mir durch den Kopf: Wie sinnhaft ist es, um diese Zeit eine Ampel in einem gottverlassenen Dörfchen nicht abzuschalten? Ergibt es Sinn, hier zu warten? Und zweitens: Wer kontrolliert die Regel? Droht mir eine Strafe, wenn ich jetzt gegen sie verstoße? Offensichtlich wäre das nicht der Fall gewesen.

Um es kurz zu machen: Ich bin trotzdem nicht einfach losgefahren; ich habe brav auf Grün gewartet. Ich habe auf Grün gewartet, weil ich prinzipiell – gerade auch in meiner Vorbildfunktion als Vater kleiner Kinder – nicht über Rot fahre und gehe. Wo kämen wir auch hin, wenn die Wirksamkeit einer roten Ampel von der Legitimierung jedes einzelnen Verkehrsteilnehmers abhinge? Könnte ich mich auf eine grüne Ampel noch verlassen, wenn ich befürchten müsste, dass ein anderer Autofahrer jederzeit seine rote Ampel als nicht überzeugend einstufen und sie missachten könnte? Wir fahren in Deutschland gut damit, dass man an einer roten Ampel grundsätzlich immer stehenbleibt.

Warum sind wir Deutschen nicht so deutsch wie sonst?

„Wir alle halten an einer roten Ampel, und wir wissen, dass nicht neben jeder Ampel ein Polizist steht, der kontrolliert, ob wir anhalten“, stellte am Donnerstag Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller fest und fügte hinzu: „Wir haben gelernt, dass es uns und andere schützt, dass es sicherer ist, an einer roten Ampel zu halten. Warum ist das eigentlich nicht so selbstverständlich nach den letzten anderthalb Jahren Corona-Pandemie möglich?“

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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Eine gute Frage ist das, vielleicht die entscheidende in diesen Tagen. Warum sind wir Deutschen ausgerechnet jetzt, wo es drauf ankommt, nicht so typisch deutsch wie sonst? Die Antwort ist: Die dauerroten Ampeln haben uns mürbe, haben uns müde gemacht. Wir wachen erst wieder auf, wenn die Zahl der Toten ein unerträgliches Ausmaß erreicht. Offenbar scheint genau das aber so langsam der Fall zu sein.

Sofern die bundesweit derzeit eher stagnierende Inzidenz nicht nur auf Erfassungsprobleme der Gesundheitsämter zurückzuführen ist, könnte sie darauf hinweisen, dass wir Regeln wieder besser achten und unsere Kontakte reduzieren, auch auf freiwilliger Basis. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ist nämlich einsichtig, handelt vernünftig. Der berechtigte Alarm, den Wissenschaftler seit einigen Wochen immer heftiger schlagen, zeigt Wirkung. Endlich.

Die dramatische Wende der FDP

Wirkung zeigt auch die aktuelle Reaktion der Politik und die neue Einmütigkeit in zentralen Fragen über Parteigrenzen hinweg – sieht man einmal von dem einen oder anderen Scharmützel ab. Wenn jetzt sogar der Vorsitzende jener Partei, die bis zuletzt mit der Fahne der Freiheit auf die Befürworter von Regel-Verschärfungen eingedroschen hat, auch für die schärfste aller Regel-Verschärfungen eintritt – die Impfpflicht für alle –, dann weiß jeder, was die Stunde geschlagen hat.

Eine Impfpflicht für alle sei zwar ein „scharfes Schwert“, sagte der FDP-Chef und designierte Bundesfinanzminister Christian Lindner jetzt in einem Interview. „Aber ich glaube, es ist verhältnismäßig“, fügte er hinzu und behauptete (scheinh)eilig, diese Neupositionierung sei „keine dramatische Wende der FDP“. Nun ja, man muss keine Drama-Queen sein, um hier natürlich eine dramatische Wende zu entdecken. Dramatischer geht´s kaum. Man könnte mit einem Hauch Häme sagen: Willkommen in der Realpolitik, lieber Christian Lindner! Oder man zollt dem Ober-Liberalen einfach mal Respekt dafür, dass er den Ernst der Lage erkannt und sich korrigiert hat. Letzteres, finde ich, ist der sympathischere Ansatz, der dem notwendigen Wir-Gefühl zur Überwindung der Krise mehr Schubkraft verleiht.

Hirn aus, Maske ab!

Doch noch ist das Wir-Gefühl nicht kräftig genug. Noch immer gibt es beachtlich viele Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, obwohl sie können und sollen. Und einige von ihnen belassen es nicht bei der stillen Weigerung. Sie verachten alles, was dazu führen soll, die Pandemie einzudämmen und zu beenden. Sie wollen sich an keine Regel halten. Wenn die Ampel rot ist, geben sie Gas, statt zu bremsen. Sie behaupten, sie seien „die Vielen“, und vergessen, dass wir anderen viel mehr sind, dass wir nicht länger bereit sind, uns dem Diktat einer Minderheit dauerhaft zu beugen.

„Maske ab!“ Dazu hat ein Bochumer Lotto-Laden seine Kundschaft aufgerufen. Die Maskenpflicht gelte bei ihm nicht, sagte der Betreiber auf Anfrage. „Bei uns gibt es keine Regeln!“, prangte auf dem Aufsteller vor der Lottoannahmestelle in Harpen. Und weiter: „Wir beteiligen uns nicht an staatlich verordneter Hirnwäsche und Diskriminierung von Mitmenschen.“ Die AHA-Regeln übersetzte der Laden-Betreiber so: Fernseher – Ausschalten; Corona-Regeln – Hinterfragen; Mund-Nasen-Bedeckung – Abnehmen.

Lieber guter Lotto-Laden-Mensch, haben Sie eigentlich noch alle Schnapsflaschen im Verkaufsregal?

2G wird nicht ordentlich überprüft

Was bei den einen purer Vorsatz ist, ist bei den anderen oft nur Fahrlässigkeit. Fast jeder von uns hat das schon erlebt: Du gehst ins Café, hast das Handy schon griffbereit, öffnest die Corona-App, um den Impfnachweis vorzeigen zu können, und dann winkt der Kellner ab. „Passt schon!“ Er überprüft – nichts. Unsere Lokalredaktion in Herne wollte es genauer wissen und machte den Test. Wie gut prüfen Gastronomie, Friseur oder Schwimmbad den Impfnachweis? Die Ergebnisse waren zum Teil erschreckend. In einer Stichprobe legten unsere (durchweg geimpften) Redaktionsmitglieder Impfnachweise von Familienmitgliedern vor oder einfach nur Screenshots – und kamen damit durch.

Man versteht es ja. Die Bedienung im Café hat wenig Zeit. Sie soll nun plötzlich Impfausweise kontrollieren und diese dann auch noch mit Personalausweisen abgleichen. Das ist nicht nur lästig. Das erzeugt zusätzlichen Stress. Und dann fehlt der Druck, weil es viel zu wenig Kontrollen gibt. Auch das ist verständlich. Wo sollen sie plötzlich alle herkommen, die vielen zusätzlich benötigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ordnungsamt? Die 2G-Regel wird auch dann, wenn die Strafen weiter erhöht werden, nur funktionieren, wenn wir sie alle genauso respektieren wie die rote Ampel kurz vor Mitternacht im Nirgendwo.

3G am Arbeitsplatz, aber nicht im Testzentrum?

Und dann sind da noch, als Spitze des Eisbergs, jene, bei denen womöglich die Gier regiert, denen die Regeln mutmaßlich im Wege stehen beim Geldverdienen. 3G am Arbeitsplatz? Nicht so in einem Testzentrum in Velbert, wenn man den Mitarbeiterinnen dort glauben darf. Man muss sich das einmal vorstellen: Ausgerechnet dort, wo getestet werden soll, wo man den zu Testenden sehr, sehr nahekommt, könnten junge Frauen eingesetzt sein, die weder geimpft noch ordentlich kontrolliert getestet sind. Mehrere tausend Euro wirft so ein Testzentrum im Monat ab. Dafür kann man als Betreiber, der übrigens alle Vorwürfe vehement bestreitet, anschließend schon einmal ein schnelles Auto kaufen und die nächste rote Ampel über den Haufen fahren.

In NRW gelten von diesem Wochenende an deutlich strengere Regeln. So soll die vierte Welle gebrochen werden, bevor sie sächsische Ausmaße erreicht. Die eigentlichen Wellenbrecher allerdings – das können nur wir alle sein. Wir, die wir vor der roten Ampel stehenbleiben, auch wenn uns kein Polizist daran hindern würde, ungestraft weiterzufahren.

Auf bald.