Neviges. Die evangelische Kirchengemeinde entdeckt in der Corona-Krise ungeahnte Möglichkeiten – und zwar digital. Das will man auch in Zukunft ausbauen.
Keine Gottesdienste, keine Senioren-Nachmittage, keine Jugendtreffen: Corona hatte auch das Leben in der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde komplett lahm gelegt - das war zu Anfang der Pandemie, im Frühjahr 2020. Doch dann passierte etwas, worüber sich Sebastian Hennlich, Vorsitzender des CVJM Neviges, noch heute kopfschüttelnd wundert: „Plötzlich waren da Dinge möglich, davon haben wir vorher nur geträumt.“ Denn die Gemeinde erstarrte nicht in Lethargie, sondern machte aus der Not eine Tugend, wie es Hennlich nennt. Frei nach dem Motto „Wenn die Leute nicht in die Kirche gehen können, dann kommt die Kirche eben ins Wohnzimmer“ wurde in Windeseile ein digitales Programm auf die Beine gestellt. Mit einem Ergebnis, das sich sehen lassen kann.
WLAN in der Stadtkirche
„Am 22. März 2020 haben wird den ersten Gottesdienst aufgezeichnet und ins Netz gestellt“, sagt Jörg Sindt, Mitglied des Presbyteriums und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit, nach einem kurzen Blick in die Unterlagen. Bis heute sei dieser Gottesdienst 230 mal aufgerufen worden. „Das sind mehr Klicks als Gottesdienstbesucher“, wirft Dietgard Reith, Presbyteriumsmitglied, ein. Von Anfang an hatten sich vor allem Sebastian Hennlich, den hier alle nur den „Chef vom Dienst Technik“ nennen, und Jugendleiter René Görtz hineingekniet in die neue digitale Welt. Im Winter 2021 kam dann so richtig Schwung in die Geschichte: Die Stadtwerke erweiterten das Glasfasernetz, in der Stadtkirche gab’s ab sofort WLAN.
Drei Webcams
Der erste Live-Stream des Jugendgottesdienstes am 27. Februar sei schon eine aufregende Geschichte gewesen, erinnert sich Jugendleiter René Görtz. „Denn wir sind ja alle keine Profis. Aber wir hatten von Anfang an Spaß daran, neue Sachen auszuprobieren.“ Und man habe die Dringlichkeit erkannt. „Wir wussten: Die Pandemie dauert. Und wir mussten uns ja etwas einfallen lassen, um die Leute zu erreichen.“ Schmunzend denkt Sebastian Hennlich, von Beruf Lack-Laborant, an den Kauf der ersten Web-Cam zurück. „Da hab ich mich beim Radio beraten lassen. Bei Eins Live gab es damals so eine Aktion, da hatte ich einfach angerufen. Die haben mir dann bei Kauf der ersten Kamera ein wenig geholfen.“ Inzwischen wurden 3 Kameras angeschafft.
Kirchenchor probt per Zoom
Seit den ersten Gehversuchen wurden 180 Videos gedreht: Impulse, Jugendgottesdienste, Anregungen und Anstöße. „Das sind zwei pro Woche, das ist schon was“, merkt Jörg Sindt an. Und auch in anderen Bereichen sei man mutiger geworden und habe Neues gewagt. „Beim Kirchenchor probt eine Handvoll per Zoom. Unter der Anleitung von Chorleiterin Anna Levina-Mejeritski können einzelne Stimmen proben, man kann eben nur nicht gemeinsam singen“, erläutert Dietgard Reith, die auch schon Pläne hat, um noch mehr Menschen in der Gemeinde digital fit zu machen.
Weiter zweigleisig fahren
Kirche bis Ende Juli geöffnet
Die Stadtkirche ist unter dem Motto „Kirche vollhOFFEN“ bis Ende Juli donnerstags von 10 bis 12 Uhr und sonntags von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Während dieser Zeit gibt es ein kleines Angebot zur Inspiration.Das frühere Gemeindehaus am Kirchplatz hat der Landschaftsarchitekt Martin Straßen gekauft, der auch Spezialist für die Sanierung denkmalgeschützter Bauten ist. Die Gemeinde hat im Erdgeschoss weiterhin ein uneingeschränktes Nutzungsrecht. Die obere Etage ist vermietet.
„Sobald man sich wieder treffen darf, möchte ich einen Tablet-Kurs speziell für Senioren anbieten. Maximal zwei Leute teilen sich jemanden, der ihnen die Grundlagen erklärt und auch die Scheu nimmt. Zum Beispiel, wie man einen Zoom eröffnet und so weiter.“ Toll wäre es, so die engagierte Rentnerin, wenn sich auch ein Pate fände, den die Senioren bei Bedarf auch mal von Zuhause aus anrufen können, wenn gerade mal Holland in Not ist. „Denn wenn alle fit sind, dann könnte man ja auch per Zoom gemeinsam beten.“ Nun muss niemand Sorge haben, dass „seine Kirche“ nur noch online funktioniere. Natürlich freue man sich wieder auf ganz normale Gottesdienste, auf richtige von Angesicht zu Angesicht. Die guten Erfahrungen, die man im strengen Lockdown mit der Digitalisierung gemacht hatte, sollen jetzt nur nicht vergessen werden, so Jugendleiter René Görzt: „Wir wollen auch in Zukunft zweigleisig fahren, pflegen analog und digital. Denn Neues zu lernen hält jung.“
Und auch ganz analog hat die Corona-Krise der Gemeinde ein paar überraschende Erkenntnisse beschert: So erfreuten sich die Gartenkonzerte des Posaunenchores großer Beliebtheit. Und die Aktion im Februar, die Stadtkirche im strengen Lockdown an bestimmten Tagen zu öffnen, war dermaßen erfolgreich, dass „Kirche voll hOFFEN“ jetzt sogar mit Kirchenmusik neu aufgelegt wird. Dietgard Reith: „Auf so etwas wären wir ohne Corona nie gekommen.“