Oberhausen. „Planet Ozean“: Die aktuelle Ausstellung in Oberhausens Industriedenkmal Gasometer lädt in die Unterwasserwelt von Seespinnen und Narwalen.
„Wie seltsam, diesen Planeten Erde zu nennen, wo er doch vor allem ein Ozean ist.“ Gerade habe ich das wohlige Halbdunkel der Ausstellungstonne durch die schwere Eingangstür betreten, da stehe ich vor einer Infotafel und lese dieses Zitat des englischen Schriftstellers Sir Arthur C. Clarke. Ich muss an die verstaubte Globuslampe bei uns zu Hause denken und das viele Blau darauf. Wie recht er doch hat. Um dieses tiefe, weite Blau auf Erden soll es hier also gehen, in der aktuellen Ausstellung im Gasometer: „Planet Ozean“. Nach anderthalbstündigem Rundgang (ich habe nur die Klanginstallation des britischen Komponisten Chris Watson aus Zeitgründen ausgelassen) verlasse ich leicht benommen und beseelt von der Schönheit der Natur die heilige Industriehalle und trete ins gleißende Sonnenlicht. Meine Top-Fünf-Eindrücke, die mich in den nächsten Tagen bestimmt begleiten werden:
ERSTENS. Seespinne. Was für ein ekliges Wort. Als ich es lese, kribbelt es mich überall. Das Video, vor dem ich wie angewurzelt stehenbleibe, macht die Sache nicht besser. Hunderte, nein tausende Krabbeltiere mit Spinnenbeinen bewegen sich in irrem Tempo auf dem sandigen Meeresboden. Sie scheinen ein Ziel zu haben oder einer Mission zu folgen, jedenfalls wirkt es wie eine Armee, die unterwegs ist zu einem kriegerischen Unterwasser-Einsatz. Zum Glück bevölkern diese 50 Zentimeter (!) großen Wesen die Südküste Australiens und nicht den Duisburger See, in dem ich im Sommer schwimme. Seespinnen leben eigentlich in bis zu 820 Metern Tiefe, lese ich weiter, doch zu Beginn des Winters bewegen sie sich in flacheres Gewässer, um dort ihren Panzer zu wechseln. Schon spannend, denke ich jetzt. Und als ich dann das präparierte Exemplar in dem Schaukasten entdecke, tritt meine Abscheu zurück und ich bestaune dieses Lebewesen, das mir in seiner Fremdheit und Andersartigkeit gerade noch Angst gemacht hat.
ZWEITENS. Wo sind sie denn, die Einhörner? Mein Blick streift suchend die großformatigen Fotografien, die Exponate dazwischen und die vielen anderen Besucherinnen und Besucher, die ich zwar wahrnehme (weil unüberhörbar. . .), aber versuche, völlig auszublenden. Das funktioniert sogar ganz gut, wenn man fokussiert bleibt. Ich schaffe es nur nicht, mich auch noch auf die Musik einzulassen, die speziell für diese Ausstellung komponiert wurde. Jetzt habe ich sie entdeckt, die freundlich schauenden Narwale, die unter der Decke hängen. Ihre Verwandtschaft mit den Delfinen ist unübersehbar. Ihr absolutes Alleinstellungsmerkmal auch: ein superlanger Stoßzahn (deshalb „Einhorn“ des Meeres). Ich spaziere unter ihnen umher und bemerke: Nicht alle haben einen – Männchen immer, Weibchen selten – und außerdem ist das mehrere Meter lange, spitze Teil aus der Nähe überhaupt nicht hübsch wie bei einem Fabelwesen, sondern eher bedrohlich. Schnell weg hier.
DRITTENS. Eigentlich habe ich keine Lust auf bewegte Bilder, ich glotze doch eh viel zu oft auf Bildschirme. Meine Augen ruhen viel lieber auf den beeindruckenden Bildern der Meeresbewohner und den Unterwasser-Fundstücken in den Vitrinen, die ich bedächtigen Schrittes umrunde. Doch dann: Diese Szene kommt mir doch bekannt vor. Ein schwarzhaariger Mann ist auf dem Monitor zu sehen, er ist jung und gut aussehend, sein himmelblauer Anzug wirkt sommerlich und offiziell zugleich. Er steht an einem Rednerpult, hinter ihm wehen zwei Fahnen. Er beginnt zu sprechen, doch ich kann dem Text, der eingeblendet ist, nicht folgen. Das Bild zieht mich in seinen Bann, die Kamera zoomt langsam auf, vergrößert den Blickwinkel. Man sieht eine winzige Insel inmitten von türkisblauem Meer, den Pazifikstaat Tuvalu. Ein Paradies, das durch den Klimawandel überflutet werden und verschwinden könnte. Der Mann ist Außenminister Simon Kofe, der dieses Video als Hilferuf gesendet hat. Seine Botschaft: Sollte sein Heimatland untergehen, will er es mit digitalen Mitteln als Kopie im Metaverse wieder auferstehen lassen. Wie verrückt. Wie traurig.
VIERTENS. Wow, ist das hübsch. Würde farblich toll in unser Wohnzimmer passen. Ich gehe so nah wie möglich an den Schaukasten heran. Es ist der Ausschnitt eines Riffs, mit Korallen in verschiedensten Formen und Farben: knallrot, blau, rosa. Wie Blüten in einem kunstvollen Arrangement. Tiere haben sich auch versteckt und hübsche leuchtend gelbe Fische schwimmen umher. Mutter Natur in ihrer vollen Pracht. Erst jetzt sehe ich, dass es noch einen zweiten Glaskasten gibt, links daneben und etwas zurückgesetzt. Dieselbe Kulisse, nur hat jemand hier alle Farben herausgesaugt. Bleich ist alles und plötzlich kein bisschen schön. So sieht ein krankes Riff aus, lese ich. Eines, das durch die Umweltzerstörung durch den Menschen gestorben ist.
FÜNFTENS. Wie könnte ich nur die Ausstellung verlassen, ohne mich auf der Empore im zweiten Stock des Gasometers der beeindruckenden Inszenierung des Meeresgeschehens hinzugeben. Ich knautsche mir einen Sitzsack zurecht, plumpse hinein und recke den Kopf zur Decke. Wie ein Film tauchen die Projektionen diagonal über uns auf. Lichtspiele im Wasser und Fischschwärme, deren Bewegungen wie ein Ballett choreografiert zu sein scheinen, lassen mich immer tiefer in diese Illusion sinken. Auch vertikal ist etwas los, eine 40 Meter hohe Leinwand, das technische Meisterwerk und Sahnehäubchen der Ausstellung, lässt einen Buckelwal in voller Körpergröße auftauchen. Als die riesigen Tiere über unseren Köpfen zu schwimmen scheinen, bin ich vollends davon überzeugt: Ich liege unter der Meeresoberfläche. Ganz steif und mit angehaltenem Atem. Das muss er sein, der Rausch der Tiefe.
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